Bei einer 82-jährigen Mutter sind Sie dem jugendlichen Dasein wohl schon deutlich entwachsen. Das lässt die Sache natürlich in einem anderen Licht erscheinen als bei einem 15-Jährigen, der sich jeden Morgen, von der Mutter mit Kakao und Stullen versorgt, vermeintlich auf den Weg zu einer nicht mehr vorhandenen Ausbildungsstelle macht und nach einem Tag in Parks und Warenhäusern am Abend erfundene Anekdoten vom Vorgesetzten auftischt. Hier erinnert es mehr an einen Klassiker der Lügendiskussion. Der Kirchenlehrer Augustinus wollte auch einen Schwerstkranken nicht schonen, den die Nachricht vom »Tod seines einzigen, heiß geliebten Sohnes« umbringen würde.
Es sei, so Augustinus, leichter, den Verlust des zeitlichen Lebens zu ertragen, als Schaden an der Seele zu nehmen und den ewigen Tod der Sünde zu sterben. Andere Philosophen sehen die Wahrhaftigkeit als einen Wert neben der Menschlichkeit und wägen ab. Dem würde auch ich mich anschließen und es davon abhängig machen, wie sehr Ihre Mutter durch die Nachricht beeinträchtigt würde. Brächte es sie buchstäblich um, spräche das sehr gegen das Offenbaren. Allerdings müssen Sie dabei stets bedenken, inwieweit Sie Ihre Mutter nicht mehr als gleichwertigen Menschen ansehen, wenn Sie sie wie ein Kind vor der Realität schlechter Nachrichten abschirmen.
Dennoch scheint mir auch Ihr Alter von Bedeutung. Anders als der 15-Jährige unterstehen Sie nicht mehr der elterlichen Sorge und haben als Erwachsener – unabhängig von der Frage der Lüge – nicht die Pflicht, Ihrer Mutter über alles Rapport zu erstatten. Soweit sie Ihre enge Vertraute geblieben ist, werden Sie es ihr eher erzählen wollen, schon allein, damit sie es nicht von anderen erfährt; teilen Sie hingegen auch sonst wenig von Ihrer beider Alltag, brauchen Sie auch nicht selektiv mit belastenden Nachrichten anzufangen. Literatur:
Aurelius Augustinus, Contra mendacium, übersetzt von P. Keseling, 115. CSEL 41, 519
Eberhard Schockenhoff, Zur Lüge verdammt? Herder Freiburg 2005, insbesondere S. 53f.
Hans Kelsen, Was ist Gerechtigkeit? Reclam Stuttgart 2000, S. 18
André Comte-Sponville, Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben, Rowohlt TB 1998, Kapitel 16 Die Aufrichtigkeit
Haben Sie auch eine Gewissensfrage?
Dann schreiben Sie an Dr. Dr. Rainer Erlinger, SZ-Magazin, Hultschiner Str. 8, 81677 München oder an gewissensfrage@sz-magazin.de.
Illustration: Marc Herold