Die Gewissensfrage

Darf man sich psychisch Kranke in seiner Freizeit vom Leib halten, wenn man beruflich schon täglich mit ihnen zu tun hat?

»Ich arbeite mit psychisch kranken Menschen und deren Angehörigen. Dabei geht es auch darum, Stigmatisierungen und Vorurteilen entgegenzutreten. Ich bemühe mich, den Angehörigen zu vermitteln, dass Toleranz im Umgang mit den kranken Menschen nötig ist. Nun habe ich auch außerhalb der Arbeitszeit einen Sensor für Menschen mit schweren psychischen Problemen – halte mich dann aber absichtlich von diesen Menschen fern. Dies gilt nicht für Menschen, die ich schon lange kenne und die dann erst erkranken. Handle ich unmoralisch?« Frank M., Berlin

Tatsächlich hat Ihr beruflich vertretenes Anliegen, Stigmatisierungen und Vorurteilen gegenüber psychisch Kranken entgegenzuwirken, auch eine moralische Seite. Vorurteile verletzen die Betreffenden als Personen und können unter Umständen das Krankheitsbild verstärken. Zudem stellt Hilfe gegenüber Schwachen, hier in sozialer Hinsicht, eine zentrale moralische Forderung dar. Das alles gilt aber für jedermann und damit auch für Sie, und so gesehen ist es falsch, wenn Sie sich privat von Kranken fernhalten.In Ihrem Fall kommt etwas hinzu, was ich als Integrität der Persönlichkeit bezeichne: Es stellt einen Widerspruch dar, wenn Sie als Privatperson nicht so handeln, wie Sie es beruflich von anderen fordern. Ein Phänomen, das man mit der Redewendung »Wasser predigen und Wein trinken« beschreibt. Auch das spricht gegen Ihr Verhalten.

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Allerdings gibt es noch einen dritten Aspekt: Wie viel Einsatz kann man von Ihnen fordern? Und wie viel können Sie faktisch leisten? Wenn Sie von einem »Sensor« schreiben, den Sie für Menschen mit psychischen Problemen haben, kann das auch bedeuten, dass Sie sich unbewusst zu solchen Menschen hingezogen fühlen – Sie haben schließlich auch diesen Beruf gewählt – und umgekehrt sich Menschen mit Problemen bei Ihnen emotional geborgen und deswegen zu Ihnen hingezogen fühlen. Es muss nicht gleich so enden, aber gerade in einem helfenden Arbeitsfeld wie dem Ihren kommt es nicht selten zu Burn-outs, die häufig auch aus Überlastung in der persönlichen Zuwendung resultieren.

Was bedeutet das konkret für Sie? Es wäre falsch, mit dem Ruf »Oh Gott, noch ein Irrer!« fluchtartig den Raum zu verlassen, sobald jemand anhebt, »Ich fühl mich manchmal so …« zu sagen. Wenn sich aber entsprechende Menschen bei Ihnen auch privat ansammeln, halte ich es aus Gründen des Selbstschutzes für richtig, sich nicht auf jeden einzulassen. Zum einen brauchen Sie Kraft für Ihre professionelle Tätigkeit, zum anderen hat auch Ihr eigenes Wohlbefinden einen Wert. Bedenklich würde es erst, wenn Sie sich auch von Freunden abwenden, sobald bei denen Probleme auftreten. Da hätte die Loyalität zusätzliches Gewicht.

Illustration: Marc Herold