»Meine Arbeitskollegin muss aus finanziellen Gründen mit 74 noch einmal pro Woche arbeiten. Leider schafft sie wegen starker Rückenschmerzen kaum den Fußweg dorthin. Bei schlechtem Wetter fahre ich sie gern mit dem Auto. Bei schönem Wetter aber komme ich mit dem Fahrrad und genieße die Tour durch Wald und Natur sehr. Müsste ich darauf ihr zuliebe verzichten?« Doris C., Potsdam
Ich muss zugeben, dass ich für die konkrete Konstellation Ihrer Frage dankbar bin. Würden Sie berichten, dass Ihre Arbeitskollegin jeden Tag kommt, und Sie, um ihr zu helfen, komplett darauf verzichten müssten, mit dem Fahrrad zu fahren, ich geriete ins Zögern. So aber, an einem Tag pro Woche, scheint es mir klar zumutbar und deshalb geboten. Vor allem wenn man das Ausmaß Ihrer Einschränkung dem der Hilfe für die alte Dame gegenüberstellt.
Im Grunde sind wir hier in übertragener Form beim Phänomen des Zehent angelangt, dem Ursprung moderner Steuern: ein Zehntel der Erträge, die man in früheren Jahrhunderten an den Landesherrn oder die Kirche abgeben musste. Unter anderem für die Unterstützung der Bedürftigen. Auch viele Religionen kennen das Gebot, einen Teil seines Vermögens dafür einzusetzen.
Dass es gerade ein Zehntel war, liegt vermutlich an der Tatsache, dass wir zehn Finger haben, und dem ebenfalls darauf beruhenden Dezimalsystem. Hier entscheidend aber scheint mir weniger die Zahl – bei Ihnen geht es um ein Fünftel –, sondern die Tatsache, dass es jeweils ein Teil ist, den man abgeben soll. Wie groß der auch immer sein mag. Ein Problem, das schon Immanuel Kant gesehen hat: »Allein ich soll mit einem Teil meiner Wohlfahrt ein Opfer an andere ohne Hoffnung der Wiedervergeltung machen, weil es Pflicht ist, und nun ist unmöglich, bestimmte Grenzen anzugeben: wie weit das gehen könne.«
Ich glaube, das ist die allgemeine Erkenntnis, die man aus Ihrer konkreten Frage ziehen kann: die Idee des Teilens, nicht nur finanziell, sondern, wie hier, auch bei den eigenen Vorlieben. Das wird einfacher, wenn man sich klar macht, dass es nur um einen Teil geht. Es geht nicht darum, dass man immer zurückstecken oder verzichten soll. Aber manchmal. Ein Miteinander-Zehent.
Literatur:
Immanuel Kant, Metapyhsik der Sitten, AA S. 393
»Allein ich soll mit einem Theil meiner Wohlfahrt ein Opfer an Andere ohne Hoffnung der Wiedervergeltung machen, weil es Pflicht ist, und nun ist unmöglich bestimmte Grenzen anzugeben: wie weit das gehen könne. Es kommt sehr darauf an, was für jeden nach seiner Empfindungsart wahres Bedürfniß sein werde, welches zu bestimmen jedem selbst überlassen bleiben muß. Denn mit Aufopferung seiner eigenen Glückseligkeit (seiner wahren Bedürfnisse) Anderer ihre zu befördern, würde eine an sich selbst widerstreitende Maxime sein, wenn man sie zum allgemeinen Gesetz machte. Also ist diese Pflicht nur eine weite; sie hat einen Spielraum, mehr oder weniger hierin zu tun, ohne dass sich die Grenzen davon angeben lassen.«
Constanze Hacke: Der Zehnte – ein Streifzug durch die Steuergeschichte, izpb Informationen zur politischen Bildung, herausgegeben von der Bundeszentrale für politische Bildung, Heft 288 (2012), Steuern und Finanzen, S. 12–21