»Kurz vor der Hochzeit meines Sohnes bekam ich eine SMS von ihm: ›Ach ja, was ich noch vergessen hab: Zur Hochzeit wünsche ich mir, dass Du Dir die Haare wieder kurz schneidest :) VG‹. Früher hatte ich sehr kurze Haare, seit einem Jahr lasse ich sie mir wachsen, meine Freundin steht total drauf. Ich bin knapp 57 und befinde mich in einer moralischen Notlage: Sohn oder Freundin?« Josef V., München
Es entbehrt ja nicht einer gewissen Komik: Nach vielen Jahrzehnten, in denen Eltern ihre Kinder teils mit Druck, teils fast flehentlich gebeten haben, sich doch für bestimmte, meistens familiäre Anlässe die Haare schneiden zu lassen, berichten Sie hier von einem umgekehrten Fall. Können die Menschen sich nicht gegenseitig die Freiheit lassen, ihren Kopf nach eigenen Wünschen zu gestalten? Oder ist es gar nicht Ihr eigener Wunsch, und Sie lassen Ihre Haare nur Ihrer Freundin zuliebe wachsen?
Selbst dann gilt: Sie entlassen Ihren Sohn in die Ehe, er gründet jetzt seine eigene Familie. Das bedeutet meines Erachtens aber auch, dass spätestens jetzt auch Sie wieder verstärkt in Ihr Leben zurück entlassen werden, in dem Sie sich offenbar Ihrer Freundin zuwenden – und vor allem ihr gefallen wollen. Die Eltern-Kind-Beziehung wandelt sich, und dazu gehört die wechselseitige Achtung der Eigenständigkeit. Das schließt nicht aus, dass Sie sich Ihrem Sohn zuliebe die Haare schneiden lassen können, aber ich sehe Sie keinesfalls dazu verpflichtet. Und ich muss gestehen, dass ich Verknüpfungen wie die des Wunsches Ihres Sohnes mit seinem besonderen Tag, fast im Sinne einer moralischen Erpressung, für schwierig halte.
Apropos besonderer Tag: Würde man darauf abstellen, wäre die Hochzeit Ihres Sohnes eher ein Tag, an dem er Ihnen dafür danken sollte, ihn ins Leben geführt zu haben. Und kein Tag, an dem man zusätzliche Forderungen an die Eltern erhebt. Und schließlich: Eine für Sie doch relativ ein- beziehungsweise abschneidende Forderung per SMS zu erheben und mit einem Smiley zu garnieren, ist nicht angemessen. Es sei denn, man deutet den Smiley als Zeichen, dass er es nicht so wirklich ernst meint. Ich weiß nicht, was hier zutrifft, aber beide Auslegungen sprechen dagegen, dass Sie der Forderung Folge leisten müssten.
Literatur:
Georg Simmel: Exkurs über Treue und Dankbarkeit, S. 95-108, aus: Georg Simmel, Soziologie. Untersuchung über die Formen der Vergesellschaftung, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1992, S. 652-670.
Josef Seifert (Hrsg.), Danken und Dankbarkeit. Eine universale Dimension des Menschseins, Carl Winter Universitätsverlag, Heidelberg 1992
Tobias Boll, Soziale Praktiken mit Haut und Haaren. Alltagssemiotik und praktische Ontologie körperlicher Randbereiche, Sozialmagazin. Bd. 42 (2017). H. 1/2. Weinheim : Beltz Juventa. S. 21 – 27
Sozialmagazin 42. Jg. Heft 1-2, 2017: Themenheft »Haut und Haare«, herausgegeben von Caroline Schmitt und Matthias D. Witte
Nicole Tiedemann, Lange Männerhaare als jugendkulturelles Zeichen nach 1945, in: Christian Janecke (Hrsg.): Haar tragen. Eine kulturwissenschaftliche Annäherung. Böhlau Verlag, Köln, Weimar, Wien 2004, S. 251 – 270