Ein blinder Mann in Frankfurt will wissen, ob der Scheitel und die Krawatte sitzen, bevor er zum Vorstellungsgespräch aus dem Haus geht. Eine blinde Rentnerin in London fragt, ob Blattläuse an ihrem Hibiskus saugen. Ein blinder Familienvater in Delhi versteht nicht, ob die Milch für den Pudding zehn oder sechzig Sekunden kochen muss.
Egal, wie kompetent sie sonst durchs Leben gehen, wie gut sie ihre Karrieren oder das Gewimmel in der Großstadt meistern – es gibt Dinge, die Sehbehinderte und Blinde schwer ohne Hilfe erkennen können.
Manchmal ist die einfachste Lösung die beste: 330.000 Menschen mit Sehschwierigkeiten haben die App Be My Eyes auf ihrem Smartphone. Per Knopfdruck oder Sprachbefehl erreichen sie innerhalb von Sekunden einen Ehrenamtlichen mit Sehkraft, der ihnen via Live-Videoanruf beschreibt, worauf sie gerade ihre Handykamera halten: Die Krawatte bitte etwas nach links. Nein, da sind keine Blattläuse. Auf der Puddingpackung steht: eine Minute kochen.
Hans Jørgen Wiberg, ein sehbehinderter Schreiner aus Kopenhagen, entwickelte die App, als er 2013 auf einer Konferenz erfuhr, dass viele Blinde mit Freunden oder Familie facetimen, wenn sie bei einfachen Aufgaben Hilfe brauchen. Selbst der beste Freund oder Bruder steht aber nicht rund um die Uhr zur Verfügung und schon gar nicht um vier Uhr morgens, wenn man gerade vor dem Kühlschrank steht. »Mit der App kann man 20 Mal am Tag jemanden anrufen und hat jedes Mal jemanden in der Leitung, der sich freut, wenn er helfen kann«, sagt Will Butler, der Vizepräsident von Be My Eyes, via Zoom. »Weil wir Freiwillige auf allen Kontinenten haben, klingelt es dann nicht um vier Uhr morgens, sondern wir rufen jemanden an, der vielleicht gerade auf einem anderen Kontinent Mittagspause macht.«
Die meisten Klienten rufen wegen alltäglicher Dinge an: Ist das Licht an oder aus? Ist das eine Dose Pfirsiche oder Erbsen im Küchenschrank?
Als die App 2015 veröffentlicht wurde, meldeten sich gleich in den ersten 24 Stunden 10.000 sehende Helfer an. Inzwischen warten 5,4 Millionen Freiwillige auf Anrufe von 330.000 Sehbehinderten in 175 Ländern und 185 Sprachen. Vor allem seit der Pandemie, in der viele allein zuhause feststeckten, berichten viele Klienten, die App sei unentbehrlich geworden; und die Nutzerzahl hat sich verdoppelt.
Der größte Vorteil der App liegt in ihrer Schnelligkeit und Schlichtheit. Die meisten Klienten rufen wegen alltäglicher Dinge an: Ist das Licht an oder aus? Ist das eine Dose Pfirsiche oder Erbsen im Küchenschrank? Welcher Faden im Nähkästchen ist der blaue, um das Sweatshirt des Sohnes zu flicken? David, ein enthusiastischer Plattensammler, organisiert gerade seine umfangreiche Sammlung mit Braille-Labels, aber bevor er diese aufklebt, muss er sicher sein, dass er das richtige Album vor sich hat. Er könnte warten, bis seine Freundin kommt, aber er bevorzugt Be My Eyes, »da kann ich das, was ich machen will, eben machen, wann ich will«.
Angesichts der Rückmeldungen fällt es schwer zu entscheiden, wer enthusiastischer ist, die Kunden oder die Ehrenamtlichen. »Ich habe gerade dem nettesten älteren Herrn geholfen, seinen Hochzeitsring zu finden, der ihm auf seiner Terasse heruntergefallen war. @BeMyEyes ist mit Abstand meine Lieblingsapp!!«, schrieb zum Beispiel eine Freiwillige namens Julieann auf Instagram. »Die Leute reden dann oft über viel mehr als darüber, was im Kühlschrank ist«, fügt Butler hinzu. Er nennt die App halb im Scherz »die einzige echte soziale Plattform für Interaktion«. Die App bietet schließlich oft einen eher intimen Einblick in Schränke, Badezimmer und andere Orte, die sonst eher privat bleiben.
Die Freiwilligen schätzen besonders, dass sie jederzeit einen Anruf annehmen können, wenn es für sie gerade passt, ohne dass sie sich extra für eine Schicht verpflichten müssen. »Ich habe gerade einem Nutzer geholfen, einen Laden zu finden«, jubelt Nutzerin Tina, die in Nigeria Gesundheitsmedizin studiert. »Wow! Das war so erfüllend! Kostet dich nichts, nur ein paar Minuten deiner Zeit.«
Der außerordentliche Erfolg der App ist gleichzeitig Grund für die meisten Beschwerden: So viele Freiwillige warten inzwischen auf Anrufe, dass einige ungeduldig werden, wenn sie nur alle paar Monate mal angerufen werden oder der Anruf an einen anderen Freiwilligen gegangen ist, weil sie nicht schnell genug reagiert haben. »Viele sind enttäuscht, weil unsere Kunden nicht die ganze Zeit Hilfe brauchen«, weiß Butler. »Wir machen Witze darüber, dass wir mehr Blinde brauchen.«
Butler hat eine interessante Beobachtung gemacht: »Statistisch gesehen werden 500.000 der 5,4 Millionen Ehrenamtlichen einmal sehbehindert werden, wenn sie lang genug leben.« Viele Freiwillige melden sich an, weil ihnen das Thema Blindheit am Herzen liegt, »vielleicht, weil sie ein sehbehindertes Familienmitglied haben oder seit ihrem 16. Lebensjahr wissen, dass sie eine Augenkrankheit haben, die sie möglicherweise erblinden lässt. Manche Freiwillige sind bereits eingeschränkt in ihrem Sehfeld, können aber noch gut beschreiben, was sie auf einem Handy-Bildschirm sehen«.
Will Butler ist selbst seit seinem 19. Lebensjahr blind. »Ich wusste anfangs nicht, was ich mit dieser Behinderung anfangen sollte. Ich wünsche mir sehr, jemand hätte mir damals gesagt, dass Blinde genau so kompetent und erfolgreich sind wie alle anderen.« Oft sagen ihm Sehende, sie wünschen sich, sie könnten Blindheit heilen. »Sie denken an das schwierige Unterfangen, die Augenkraft von jemandem zu reparieren. Aber abgesehen von vermeidbarer Blindheit brauchen Hunderte Millionen Blinde vor allem Zugang zu Information. Das ist ein wesentlich schnelleres Heilmittel als Stammzellen oder was auch immer. Wissen ist Macht.«
Weil die Menschheit älter wird und wächst, wird die Zahl der Sehbehinderten bis 2030 um ein Drittel steigen
Laut der Weltgesundheitsorganisation leben weltweit 285 Millionen Menschen mit Sehverlust. Weil die Menschheit älter und zahlreicher wird, wird die Zahl der Sehbehinderten bis 2030 um ein Drittel steigen. Zumindest in wohlhabenderen Ländern können Blinde auf alle möglichen technischen Hilsmittel zurückgreifen, von Blindenstöcken mit GPS über intelligenten Lesegeräten bis zu barrierefreier Software. Viele Blinde nutzen das iPhone, das seit 2009 serienmäßig mit barrierefreien Benutzermöglichkeiten wie Sprachsteuerung ausgestattet ist. Smartphone-Apps wie TapTapSee, beschreiben den Nutzern mit Hilfe von künstlicher Intelligenz, was auf einem Foto zu sehen ist, allerdings nur mit kostenpflichtigem Abo.
Be My Eyes dagegen ist kostenlos und füllt eine Lücke. Private Geldgeber haben die Entwicklung finanziert, und die App hat Großpartner gewonnen wie Microsoft, Google, Verizon, RiteAid und Barilla Pasta, die unter anderem auch mit spezifischen Anfragen helfen, Microsoft etwa mit Softwareberatung für sehbehinderte Nutzer.
Seit den Anfängen hat sich die App verbessert; vor allem ist sie schneller geworden. Anfragen auf Englisch werden im Durchschnitt in höchstens 15 Sekunden angenommen, in anderen Sprachen dauert es unter 30 Sekunden. Be My Eyes hat gerade den Apple Design Award 2021 als beste »Social impact App« gewonnen. »Das ist wie ein Oscar für uns«, freut sich Butler. »Es fühlt sich surreal an, unter Millionen von Apps als Gewinner gewählt zu werden, und es öffnet uns viele Türen.«
Hin und wieder ruft jemand an, der keine alltägliche Frage hat, und ein ehrenamtlicher Helfer wird Zeuge eines Moments, der Leben verändert. Als die junge, blinde Journalistin sich zuhause in ihrem Badezimmer einschließt, um einen Schwangerschaftstest zu machen, hofft sie, nach mehreren vergeblichen Versuchen endlich das ersehnte Ergebnis für sich und ihren Mann zu bekommen. Nur: Als Blinde kann sie das Ergebnis nicht erkennen. Sie könnte natürlich warten, bis ihr Mann nach Hause kommt, aber in diesem Moment scheint jede Minute wie eine Ewigkeit. Mit der Be My Eyes App bekommt sie die Nachricht, auf die sie wartet und kann ihm die Neuigkeit selbst überbringen: »Wir bekommen ein Baby!«