In der Nacht vor unserem Treffen gab es einen Toten. Zwei Polizisten erschossen einen Schwarzen. Wieder einmal, diesmal in South Los Angeles. Soviel man weiß, lief der 29 Jahre alte Dijon Kizzee vor der Polizei davon, als sie sein Fahrrad kontrollieren wollte; seine rutschende Hose hielt er notdürftig mit den Händen auf den Hüften, und als er beim Laufen seinen Packen mit Kleidung fallen ließ, sahen die Polizisten auch eine Pistole zu Boden gleiten und schossen. Tödliche Schüsse.
Wie immer muss man erst die langwierige Untersuchung abwarten, wie immer werden die Polizisten die Schüsse mit der Flucht und der Waffe rechtfertigen, und wie immer steht die Frage im Raum: Hätte man einen offensichtlich verwirrten und verängstigten Mann, der seine Waffe nicht in der Hand hielt, sondern schon fallengelassen hatte, nicht auf andere Weise aufhalten können? Die Obduktion ergab, dass Kizzee von mindestens 15 Schüssen getroffen wurde.
Ausgerechnet am Tag danach also treffe ich mich mit zwei Polizisten in den Nickerson Gardens von Watts, der Gegend von Los Angeles, die mal als kriminellstes Viertel in ganz Amerika galt. In den Achtziger- und frühen Neunzigerjahren bekriegten sich hier die Bloods und die Crips mit Drive-By-Shootings und dem Kidnappen von Kleinkindern. Schon die falsche Autofarbe oder die falschen Schnürsenkel (blau = Crips, rot = Bloods) konnten ein Todesurteil sein. Heute sind die mehr als 1000 Sozialwohnungen von Nickerson Gardens das Terrain der Bounty Hunter Bloods. Genau hier zwischen der Turnhalle und dem Parkplatz fanden früher die tödlichsten Schießereien statt. Zuletzt beschossen sich zwei Jugendliche vor zehn Tagen, und dass es Gangmitglieder waren, lesen die Polizisten daran ab, dass sich kein Opfer und keine Zeugen gemeldet haben. Aber am helllichten Tag wirken die sonnengelben Zweckbauten friedlich, Kinder tollen über die Grünflächen, nirgendwo Graffiti. »Niemand kann den Krieg stoppen außer uns«, steht auf dem Gemeinschaftshaus, und darunter die Namen Dutzender Verstorbener.
Emada Tingirides, 50, kennt Watts wie ihr Zuhause, weil es ihr Zuhause ist. Sie wuchs in Watts auf, als Kind einer alleinerziehenden Mutter und als Enkeltochter eines überzeugten Polizisten. Nun ist sie die erst zweite schwarze Polizistin in Los Angeles, die zum Deputy Chief befördert wurde, also zum Vizechef; damit übersprang sie gleich zwei Karrierestufen auf einmal. Ihr silbernes Captain-Abzeichen, Nummer 835, blitzt in der Sonne an ihrer marineblauen Uniform. Seit 1. September ist sie Chefin des neu geschaffenen Community Safety Partnership Bureaus (CSP), das ihren Ansatz der gemeinschaftlichen Polizeiarbeit auf ganz Los Angeles ausweiten soll. Anwohner wie Kollegen nennen sie nur liebevoll »Captain T« oder »Emada«. Sie und ihr Kollege, Sergeant Christian Zuniga, 41, sind damit beauftragt, mit ihren 120 CSP-Offizieren Watts und neun andere sozial schwache Viertel in Los Angeles sicherer zu machen. Fragt man sie, worum es bei CSP geht, hat sie eine griffige Antwort: »Gegenseitiges Vertrauen. Statt einfach unsere Polizeiarbeit zu machen, fragen wir die Anwohner, was sie von uns erwarten, und ihre Ziele nehmen wir ernst. Wir ziehen die Anwohner zur Rechenschaft, und die Anwohner ziehen uns zur Rechenschaft.«
Beide Seiten, Anwohner wie Polizisten, wollen sich zuerst als Menschen begegnen, statt wie früher als Gegner
Tingirides war eine Pionierin dieses Ansatzes, lange bevor es 2011 das erste CSP-Programm gab. Sie ging zum Vorlesen von Kinderbüchern in die Grundschulen von Watts und berichtet, dass selbst kleine Kinder schreiend vor ihr davonliefen, weil ihnen schon von ihren Eltern eingebläut wurde, dass von den Uniformierten nichts Gutes zu erwarten war. Es dauerte fast ein Jahr, bevor sie die Kinder umarmen konnte. »Wir fuhren immer mit mindestens zwei Mannschaftswägen ein, damit ein Team Deckung geben konnte«, erzählt ihr Kollege Christian Zuniga. Wieviel sich geändert hat, zeigt sich schon daran, dass die beiden heute zu Fuß freundlich winkend durch die Straßen laufen, und die meisten Anwohner winken genauso freundlich zurück.
Seit Black-Lives-Matter-Aktivisten im ganzen Land wegen der rassistisch motivierten Polizeibrutalität Reformen fordern und gleichzeitig auch wegen der Pandemie und der Unruhen die Gewalt wieder zunimmt, schauen alle auf Tingirides: Kann CSP eine Lösung für gerechtere Polizeiarbeit und mehr Frieden auf den Straßen sein?
Vereinfacht ausgedrückt bedeutet Gemeinschaftssicherheits-Polizei: Polizisten werden für mindestens fünf Jahre in einem Viertel stationiert, und sie schreiben nicht nur Strafzettel, sondern werden Teil der Gemeinschaft, gehen zu Bürgerversammlungen, organisieren Fußballturniere, verteilen Donuts for Dads und Muffins for Moms, sind Ansprechpartner für große und kleine Sorgen. Sie arbeiten eng mit Gangworkern, Experten, Anwohnern, Sozialarbeitern und Hilfsorganisationen zusammen. Verhaften, wo es nötig ist. Verbrechen verhindern, wo es möglich ist. »Unsere Methoden sind unkonventionell, und wir sind anpassungsfähig«, sagt Tingirides. »Jedes Viertel ist anders.«
Ein Beispiel: Nicks Kids. Als der Polizist Jeff Joyce in Nickerson Gardens stationiert wurde, fragte er die Kinder: Seid ihr hier glücklich? Nein. Was sie sich am meisten wünschten? Sie sagten: draussen spielen. Wir dürfen nie raus, weil es draussen zu gefährlich ist. »Ich habe das zuerst nicht nachvollziehen können, weil ich als Kind immer draussen war«, sagt Joyce. »Aber hier wurden die Kinder überfallen, wenn sie nach draussen gingen, oder Schlimmeres.« Also gründete er einen Fußballclub, Nicks Kids. »Das hat mein Bild von der Polizei auf den Kopf gestellt«, sagt ein Neunjähriger, «weil ich dachte, dass die Bullen schlechte Leute sind.« Und Joyce freut sich, dass mehrere seiner Fußballstars heute im Leadership-Programm für Latinos des Urban Peace Instituts (UPI) sind, das sie auf Karrieren vorbereitet. »Statt sich zu schämen, wie früher, fangen die Leute an, stolz darauf zu sein, dass sie aus Watts kommen.« Sogar Kendrick Lamar und Rihanna waren schon da, um kostenlose Open-Air-Konzerte zu geben.
Bevor die Offiziere als CSP-Polizisten in das Viertel kommen, werden sie geschult, unter anderem vom gemeinnützigen UPI. »Veränderung fängt nicht von oben, sondern von unten an«, sagt UPI-Direktor Fernando Réjon. »Wir reden über einen anderen Polizei-Stil. Nicht mehr ›wir gegen die‹, sondern Polizeiarbeit mit weniger Angst. Dafür muss man die Leute kennen, die man kontrollieren soll, und das macht sowohl die Offiziere als auch die Gemeinschaften sicherer.« Die Polizisten werden in Deeskalation ausgebildet, in den Methoden nichtkonfrontativer Kommunikation, vor allem aber setzen sie sich mit den Anwohnern an einen runden Tisch. »Es geht um die emotionale Verbindung«, sagt Tingirides. »Beide Seiten lernen, dass die Polizisten und Anwohner mehr gemeinsam haben als sie trennt.«
Auch Polizisten hätten Traumata erlebt und Erfahrung mit ungerechter Polizeiarbeit, sagt Zuniga, »oder wir haben Familienmitglieder, denen sowas passiert ist. Mein Großvater war in seiner Jugend ein schlimmer Finger, und da gab es einen üblen Polizisten, der sich bei Zwischenfällen den Nächstbesten schnappte, ihn auf die Wache schleppte und gründlich verprügelte, bevor er herausfand, wer eigentlich der Schuldige war.« Beide Seiten, Anwohner wie Polizisten, wollen sich zuerst als Menschen begegnen, statt wie früher als Gegner. Tingirides, selbst Mutter zweier Kinder, sagt: »Mein Sohn ist 20 Jahre alt und schwarz. Ich muss mit ihm unbequeme Gespräche über die Polizei in diesem Land führen. Ich kenne beide Seiten der Debatte.«
Dass die Polizei von Los Angeles den CSP-Versuch wagte, hat auch damit zu tun, dass der Ruf ihrer Polizisten besonders renovierungsbedürftig ist. Die LAPD hat allein in diesem Jahr schon mit mindestens 2000 Klagen wegen »unverhältnismäßiger Härte« zu kämpfen, auch weil Black Lives Matter mit Videos dokumentierten, dass Polizisten mit Tränengas und Gummigeschossen gegen friedlich Protestierende vorgingen. Ein Whistleblower aus den eigenen Reihen wirft seinen Kollegen gar vor, es gebe innerhalb der LAPD eine rassistische »Mafia«, bei der das Töten eines Schwarzen zum Initiationsritual gehöre.
Das erinnert an das Trauma von früher: Bekanntlich wurden LAPD-Offiziere 1991 dabei gefilmt, wie sie den schwarzen Autofahrer Rodney King nach einer Verfolgungsjagd krankenhausreif prügelten. Als die Polizisten 1992 freigesprochen wurden, führte die Empörung darüber zu schweren Unruhen, die 63 Tote und mehr als 2000 Verletzte forderten.
Vor allem im Stadtteil Compton, einem überwiegend von Schwarzen bewohnten Vorort, häufen sich immer noch Vorwürfe gegen übergriffige Polizisten. Am 12. September trat ein bisher unbekannter Täter in Compton an einen Streifenwagen des Los Angeles Sheriffs Department (LASD) heran und feuerte mehrere Schüsse auf die beiden darin sitzenden Polizisten. Sie werden überleben, aber gleich nach der Pressekonferenz zeigten die Sheriffs, warum sie so unbeliebt sind: Sie verhafteten eine zierliche Journalistin, die Proteste gegen die Sheriffs filmte, warfen sie zu fünft brutal zu Boden und verletzten sie dabei, obwohl sie sich, wie mehrere Videos beweisen, eindeutig als Reporterin auswies und die Polizisten im Rahmen ihrer durch die US-Verfassung geschützten Pressearbeit nicht behinderte.
Die Menschenrechtsanwältin Constance »Conny« Rice, Cousine der früheren Außenministerin Condoleezza Rice und zu Obamas Zeiten Mitglied seiner Task Force für Polizeireformen, hat die LAPD unzählige Male wegen Diskriminierung von Minderheiten verklagt, bevor sie das Urban Peace Institute und das Advancement Project mitgründete. Sie schrieb 2006 im Auftrag der LAPD einen wegweisenden Bericht über einen anderen Umgang mit Gangs: »Ich habe mehr als 50 Polizisten weitergebildet, ihnen gesagt: Ihr seid nicht im Verhaftungs-Geschäft, ihr seid im Vertrauensgeschäft«, sagt Rice. »Wir bringen Polizisten in eine Situation, in der sie einer Gemeinschaft helfen, ihre Probleme zu lösen.«
Mit dem Urban Peace Institut hat sie außerdem unter anderem Hunderte von ehemaligen Gangmitgliedern zu Sozialarbeitern umgeschult, die nun der Polizei Innenansichten aus ihrem ehemaligen Gangleben vermitteln und über die Traumata, die fehlenden Zukunftschancen und die Ausweglosigkeit sprechen, die oft überhaupt erst zu einer Gang-Mitgliedschaft führen. Städte wie Chicago und Providence kooperieren mit UPI und haben das Modell kopiert. In der Pandemie werden UPIs 135 Gangworker noch wichtiger: »Wir bekämpfen nicht nur Gewalt, sondern auch das Virus«, sagt Réjon. »Wir bringen wichtige Informationen in Gemeinschaften, die Regierungsanweisungen sehr misstrauen.« Rice und Tingirides, beide smarte schwarze Frauen, die ihre Taffheit mit charmanten Scherzen und einem ansteckenden lauten Lachen kaschieren, arbeiten seit zwölf Jahren Hand in Hand.
Drei Schüsse knallen in nächster Nähe. Alle halten inne. Tingirides und Zuniga horchen angestrengt in die Stille
Dass Tingirides nun ein eigenes CSP-Bureau bekommt, in dem alle 120 CSP-Offiziere koordiniert werden, und sie das Programm auf weitere Brennpunkte ausweiten soll, ist auch das Ergebnis einer in diesem März veröffentlichten Studie der University of California, die das Programm in den Jahren von 2012 bis 2017 eingehend untersuchte. Die UCLA-Forscher haben die CSP-Bezirke mit Bezirken ohne CSP verglichen und sind zu dem Schluss gekommen, dass sich die Investition in das Programm nicht nur in Menschenleben, sondern auch finanziell rechnet.
CSP habe im Durchschnitt fast 20 Gewaltverbrechen pro Jahr und pro Bezirk verhindert und allein in den beiden Watts-Vierteln Nickerson Gardens und Jordan Downs mindestens 14,4 Millionen Dollar an direkten Kosten eingespart. Zähle man die indirekten Kosten von Gewalt hinzu, ergäbe sich eine Ersparnis von mehr als 90 Millionen Dollar. Der »Krieg gegen die Gangs« habe die Stadt dagegen mehr als 25 Milliarden Dollar gekostet und sei extrem ineffektiv gewesen, heisst es in der UCLA-Studie. Nach 30 Jahren hatte Los Angeles sechs Mal so viele Gangs. Tingirides ist die erste, die zugibt, dass die niedrigeren Verbrechensraten nicht allein an ihrer Arbeit, sondern auch an dem Waffenstillstand zwischen verfeindeten Gangs, besseren Hilfsprogrammen und anderen Faktoren liegen. Aber auch als die Gewalt in Los Angeles ab 2014 wieder zunahm, schrumpfte sie in den CSP-Bezirken kontinuierlich. Wichtig ist: Der Unterschied zeigte sich erst nach drei Jahren. So lange dauerte es, bis ein Minimum an Vertrauen aufgebaut war.
Das LAPD bezahlt die Gehälter und Ausrüstung der CSP-Polizisten, die LA Housing Authorities steuern jedes Jahr 1,75 Millionen Dollar für sieben CSP-Teams bei, und der Rest wird durch Privatspenden finanziert. Der größte Einzelspender ist Steve Ballmer, Eigentümer der Los Angeles Clippers und frühere Chef von Microsoft. Der Multimilliardär hat in den letzten Jahren eine halbe Million Dollar pro Jahr für zwei CSP-Teams bereitgestellt. (Dass er auch die UCLA-Studie mitfinanzierte, macht die Forscher angreifbar, auch wenn sie natürlich ihre wissenschaftliche Unabhängigkeit beteuern.) Üppig ausgestattet sind die CSP-Büros trotzdem nicht. In Nickerson Gardens hausen sie in einer einfachen, rot gestrichenen Hütte neben dem Bolzplatz. Zehn Polizisten sind jeweils in zehn Brennpunktvierteln stationiert. »Wir brauchen Geld, um eine bessere Ausbildung unserer Polizisten zu finanzieren«, sagt Tingirides. Und Réjon weist darauf hin, dass seine Gangarbeiter seit zwölf Jahren keine Gehaltserhöhung bekommen haben.
Kritiker wie der BLM-Aktivist Baba Akili sagen, sie wollten die Polizei-Budgets massiv kürzen und die Polizei solle die Sozialarbeit den Sozialarbeitern überlassen. Die Stadt hat der Polizei dieses Jahr das Budget um 150 Millionen Dollar gekürzt (von insgesamt fast 1,2 Milliarden Dollar), um diese Mittel den Vierteln Schwarzer und Latinos zukommen zu lassen. Aber tatsächlich sind die amerikanischen Polizisten immer auch Psychologen und Kriseninterventionsarbeiter, Sanitäter und Sozialarbeiter.
Was das bedeutet, sehen wir gleich in den ersten Minuten, als Tingirides und Zuniga in Nickerson Gardens ankommen. Eine Familie trägt ein blutendes Kleinkind; der Hund der Familie hat dem Kind in die Wange gebissen. Zuniga vertreibt den Husky mit Pfefferspray, tröstet die Kleine. Vater und Mutter haben beide beeindruckende Gesichtstätowierungen; der Vater groß GANG kursiv über die rechte Hand geschrieben. Tingirides nimmt die schüchterne größere, eine neunjähriges Mädchen, mit zu ihrem Wagen, zeigt ihr Fotos ihrer eigenen 17-jährigen Tochter und erzählt ihr, wie ihre Tochter es ins College schaffte. Der Mutter gibt sie die Visitenkarte einer Beraterin, die kostenlose psychologische Betreuung für Kinder anbietet.
»In der Praxis sind wir Polizisten, Sozialarbeiter, leisten Erste Hilfe, und machen Jobberatung«, sagt Tingirides. »Natürlich ist unsere Hauptaufgabe, für Sicherheit zu sorgen, aber das heißt eben manchmal auch: einer Familie einen Gutschein für Lebensmittel besorgen oder einen Jugendlichen zum kostenlosen Computertraining zu schicken, denn aus der Not heraus entstehen Verbrechen. Es ist ein holistischer Ansatz.«
Zuniga selbst ist das beste Beispiel für einen Polizisten, der dem CSP-Programm zunächst kritisch gegenüberstand. Der stämmige Mann, selbst an den Oberarmen ganz ordentlich tätowiert, war eigentlich ein »typischer Street Cop«, sagt er, zwei Jahre lang war er vor allem für traditionelle Gangbekämpfung zuständig. »Wir haben viele Drogen und Waffen von der Straße geholt, aber wir haben auch viel Schaden angerichtet.« Er bewarb sich vor knapp zehn Jahren nur aus Karrieregründen für CSP, weil die neue Stelle einer Beförderung entsprach, und die ersten zwei Jahre als CSP-Cop agierte er nicht viel anders als vorher, bis ihm sein Chef Phil Tingirides, der inzwischen pensionierte Ehemann von Emada Tingirides, sagte, er stehe kurz davor, gefeuert zu werden. »Das Interesse muss echt sein«, sagt Zuniga. »Die Leute merken, ob du es ernst meinst.« Heute ist er der Meinung, dass sich Gewalt nicht »wegverhaften« lässt und dass die Zeit in der Haft viele junge Menschen eher verhärtet als verbessert. »Ich sitze nicht der Illusion auf, dass wir Verbrechen für immer abschaffen, aber die Frage ist: Kann die Polizei eine Rolle spielen, in der wir Verbrechen gemeinsam mit den Anwohnern aufklären und vor allem auch im Leben Jugendlicher intervenieren, bevor sie in die Kriminalität abrutschen?«
Als zwei schwarze Knirpse, vielleicht neun und zehn Jahre alt, auf motorisierten Kleinrädern wie Derwische über den Gehweg rasen, hält er den Jüngeren mit einem freundlichen Lächeln auf. »Hey, Bro!« Der Zuniga von früher hätte die frisierten Geschosse beschlagnahmt. »Sie wiederzubekommen, würde die Eltern 400 Dollar kosten, das Geld haben sie nicht. Was würde das anrichten? Vielleicht kriegen sie nächste Woche von irgendwoher neue Räder, und sie würden uns Cops hassen.« Also tätschelt er dem Jüngeren lieber begütigend die Schulter, rät ihm, einen Helm aufzusetzen und vor dem Überqueren der Straße nach rechts und links zu schauen. Der Kleine lässt den Motor aufheulen und düst erleichtert davon. Bei der nächsten Runde trägt er tatsächlich einen Helm.
Die Beziehung zu den Anwohnern sei fragil, meint Zuniga. Er habe Situationen auch schon mal falsch eingeschätzt und sich dann von Gangmitgliedern umzingelt gesehen. »Es hat Jahrzehnte gedauert, diese Konflikte zu schaffen und es wird Jahrzehnte dauern, sie aufzulösen«, sagt er. »Es kann sein, dass wir die wahren Früchte unserer Arbeit erst in 40 Jahren ernten, wenn wir längst in Rente sind.«
Drei Schüsse knallen in nächster Nähe. Alle halten inne. Tingirides und Zuniga horchen angestrengt in die Stille. »Zuviel Luft, oder?« Zuniga blickt Tingirides fragend an. Sie nickt. »Klingt nach Paintball-Pistolen«, also mit Lebensmittelfarbe gefüllten Spielzeugwaffen. Gut, wenn jemand nach mehr als zehn Jahren im Job die Gefahr schon an der Klangfarbe der Schüsse abschätzen kann.