Ich knie gerade am Boden im Vierfüßlerstand, strecke meinen Po nach oben und mache laut Ümpf-Ümpf-Ümpf, als die Schwangere über mir im Bett schallend zu lachen beginnt. Ich habe nicht bemerkt, dass der Oberarzt zur Tür hereingekommen ist. Mir wird heiß.
Bis dahin hatte die Frau aus dem Kongo kein Wort verstanden, mich nur panisch angeschaut und sich vor Schmerzen gewunden, jetzt lacht sie, das ist doch schon mal was. Ich rappele mich auf und sage zum Kollegen »Äh, ich hab hier kurz was vorgemacht.«
Ich hatte nur beherzigt, was meine Ausbilderin immer gesagt hat. »Als Hebamme musst du dich zum Löffel machen«, es war ihr Ausdruck für: Zur Not müsst ihr den Schwangeren eben alles vorturnen – das nimmt nicht nur die Angst der Frauen, sich zu blamieren, es überwindet eben auch jede Sprachbarriere: Denn fast täglich habe ich mit Frauen zu tun, mit denen ich mich nicht oder kaum verständigen kann. Ungefähr jede sechste Frau, die zu uns kommt, spricht kein Deutsch. Seit so viele Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind, sind es noch mehr geworden.
Bei diesen Frauen wissen wir Hebammen oft nicht: Ist es ihr erstes Kind, hatten sie schon einmal Komplikationen, gibt es Vorerkrankungen oder Allergien? Ich habe ernsthaft schon überlegt, bei meinem Chef einen Türkisch-Kurs zu beantragen. Türkisch brauche ich am häufigsten, aber dann blieben ja immer noch all die anderen Sprachen. Allein letzte Woche betreute ich eine Russin, eine Rumänin, eine Chinesin, eine Japanerin und eine Syrerin.
Eine Geburt kann an sich schon ein beängstigender Vorgang sein, aber wenn man nichts versteht? Und so viele Leute Fragen haben, einen anfassen, Anweisungen geben? Ich kann das Wort Hebamme in 15 Sprachen sagen und pressen in 11. Der Rest sind Blicke, Lächeln, Handbewegungen.
Da wir eine Großstadtklinik sind, arbeiten hier auch viele internationale Kollegen. Wir könnten Durchsagen wie im Flieger einführen: »Heute spricht unsere Crew für Sie« … Ein Joker sind auch die ausländischen Putzfrauen hier im Haus, wenn die Schwangeren niemanden zum Übersetzen mitbringen, rufen wir die hinzu. Mag in Sachen Schweigepflicht nicht ganz korrekt sein, aber es hilft, um Ängste verschwinden und Babys kommen zu lassen... Olga von der Geriatrie, Oksana von der Inneren – ich weiß genau, auf welcher Station ich anrufen muss, wenn ich mal eben Bulgarisch oder Russisch brauche.
Doch bei der Kongolesin hier vor mir nützt das alles nichts, sie ist alleine hier und für Google Translator oder eine dolmetschende Putzfrau nicht mehr in der Verfassung. Heftig wirft sie sich von einer Seite auf die andere.
Wir haben ihr doch schon eine PDA gelegt, was kann es sein? Hat sie immer noch übermäßige Schmerzen? Ohne sich verständigen zu können, wird eine medizinische Behandlung zu einer Autofahrt mit halb zugefrorener Frontscheibe.
Es ist interessant, wie verschieden die Frauen mit ihren Schmerzen umgehen. Japanerinnen sind oft ganz leise und stoisch, lassen sich fast nichts anmerken. Türkinnen schreien in Klagelauten das ganze Krankenhaus zusammen. »Annneeeee, Annnneeeee« – hallt es fast täglich hier durch die Gänge. Anne heißt Mutter auf Türkisch. Die Frauen rufen nach ihren Müttern, in dem Moment, wo sie selbst welche werden – wie schön eigentlich. Überhaupt mag ich türkische Geburten, danach versinkt immer die ganze Station in Zellophan. Alle, von den Ärzten bis zur Putzfrau, werden mit knisternden Geschenken überhäuft. Mir gefällt auch der Brauch, dass bei muslimischen Paaren, der Vater direkt nach der Geburt dem Baby eine bestimmte Sure aus dem Koran ins Ohr flüstert.
Ich bin jetzt kurz zu meiner Patientin, der Kongolesin, durchgedrungen, wir hatten einen kurzen Moment der Verbindung, ein Zunicken und stilles Lächeln, aber jetzt zeigt sie mir – kann das sein? – mit den Händen an, dass sie nicht mehr hört, was ich sage. Es wirkt, als würde sie ohnmächtig werden. Sie verdreht sogar die Augen. Ich streichle ihr über den Kopf, rede ihr gut zu, versuche zu unterscheiden, was kulturelle Ausdrucksweise und Temperament sind und was beunruhigende Symptome.
»Ist ja gut, Sie haben es bald geschafft, schschsch«. Kurz beruhigt sie sich tatsächlich. Vielleicht kommt das Kind ja doch noch, bis meine Schicht zuende ist... Doch da durchfährt sie ein wildes Zucken und sie ist wieder in ihrem Schrei- und Stöhn-Delirium.
Ich komme einfach nicht mehr weiter. Das ist der Zeitpunkt, an meine Kollegin S. zu übergeben, sie ist noch frisch, vielleicht hat sie noch neue Ideen, um zu kommunizieren. Ich bin dann morgen beim ersten Stillen wieder im Einsatz.
Überhaupt das Stillen: Wo die Sprache fehlt, geschieht vieles intuitiv. Der türkischen Mutter, die kaum Deutsch spricht, muss ich nicht mit Fachbegriffen erklären, wie das Baby gestillt wird, sie legt es einfach an und oft läuft es einfach. Viele deutsche Mütter kommen dagegen mit dem Wissen aus einem Geburtsvorbereitungskurs, zig Büchern und Zeitschriften-Artikeln über die Vorzüge des Stillens und wollen ja nichts falsch machen. Sie fragen mich aufgeregt, wie ich dies und jenes einschätze, bevor sie es zum ersten Mal einfach probieren und schauen, ob es klappt.
Anders gesagt: Mit der einen kann ich zwar nicht sprechen, aber kommunizieren. Mit vielen andern, kann ich sprechen, aber das macht es auch nicht immer einfacher.
Als ich draußen bin und gerade meine Regenjacke anziehe, höre ich ein markerschütterndes »Üüüüüaaaahhheeeerrrr« auf dem Gang. Das muss die Frau aus dem Kongo sein! Endlich. Es gibt einen Zeitpunkt, da versteht jede Frau, was sie jetzt tun muss. Ohne dass ihr es jemand anderes sagt, gibt ihr Körper ihr zu verstehen dass sie genau jetzt pressen muss. Und dieser Moment klingt in jeder Sprache gleich: ein gigantisches Stöhnen mit einem Überfluss an Kraft und einem Anflug von Erleichterung darin. Üüüüüaaaahhheeeerrrr. Es ist das letzte Aufbäumen, die Muttersprache der ganzen Welt. Das Kind ist jetzt da.