Trank der Wutbürger

Sieht aus wie Kunstblut und schmeckt wie kalte Spaghettisauce. Aber als der Tomatensaft aus dem Sortiment einer Fluglinie gestrichen wurde, gab es Protest – dieses Getränk zeigt, wie man sich heutzutage Gehör verschafft.

Foto: Maurizio Di Iorio

Immer wieder interessant zu sehen, wann bei Menschen das Fass überläuft. An welchem Punkt für Einzelne von uns etwas so unerträglich wird, dass wir dagegen Sturm laufen. So wie gegen die Fluglinie United Airlines. Die strich im vergangenen Jahr den Tomatensaft aus ihrem Sortiment und schenkte auf Flügen stattdessen ein Getränk namens »Mr & Mrs T Bloody Mary Mix« aus. Als sich das unter den Fluggästen herumsprach, gab es eine derartig gewaltige Protestwelle, dass United Airlines schließlich einknickte und Mitarbeiter twitterten: »Wir haben verstanden: Der Tomatensaft bleibt.«

Seither frage ich mich, wofür da eigentlich gekämpft wurde. Am Getränk selbst kann es kaum liegen: Tomatensaft sieht aus wie Kunstblut und schmeckt wie kalte Spaghettisauce. Forscher des Fraunhofer-Instituts haben jedoch he­rausgefunden, dass sich das Geschmacksempfinden ändert, wenn sich Luftfeuchtigkeit und Druckverhältnisse ändern. Deshalb werde Tomatensaft in einem Flugzeug nicht mehr als »erdig« und »muffig« empfunden, sondern als »fruchtig«, »süß« und »kühlend«. Tomatensaft ist also ein Getränk, das man nur an einem bestimmten Ort und in einer bestimmten Situation richtig genießen kann. Und wer einmal gelernt hat, einen Genuss mit einer Situation zu koppeln, verlangt irgendwann automatisch danach. Klassische Konditio­nierung.

Allerdings hat die Fluggesellschaft Austrian Airlines bei einer Befragung von mehreren Tausend Passagieren herausgefunden, dass gar nicht so viele Fluggäste Tomatensaft wollen, nur eine knappe Mehrheit von 51 Prozent. Bei der Lufthansa erfahre ich, dass im Jahr 2018 zwar 1,6 Millionen Liter Tomatensaft ausgeschenkt wurden, Fruchtsäfte mit 6,5 Millionen Litern aber deutlich beliebter waren. Und auch United Airlines strich den Saft zunächst aufgrund der mangelnden Nachfrage. Sie hätten die Dosen gezählt, sagte die Digital-Chefin der Fluggesellschaft – nur »eine lächerlich geringe Zahl« der Fluggäste trinke überhaupt Tomatensaft. Allerdings seien die Tomatensaft-Trinker »extrem laut und sehr, sehr gut auf Social Media«.

Meistgelesen diese Woche:

Tomatensaft scheint so etwas wie der Trank der Wut­bürger zu sein. Ein Symbol dafür, wie man sich Gehör verschafft, auch wenn man rein numerisch gar keine mächtige Mehrheit bildet, sondern allein dadurch, dass man seine Unzufriedenheit herausschreit. Je lauter die Forderung, ­desto größer die Chance, wahrgenommen zu werden.

Die Tomatensaft-Bewegung hat bereits einen weiteren Erfolg erzielt. Die Fluglinie Swiss beschloss vor einem Jahr, den Gemüsesaft nicht mehr nur an Business-Class-Passagiere auszuschenken, sondern auch in der Economy Class. Ein Angebot, das bis heute »sehr geschätzt« werde, wie man bei Swiss berichtet. Nun dachte ich immer, Protestbewegungen seien dazu da, Dinge zu verlangen, die utopisch oder zu­mindest unerreichbar scheinen. Viel naheliegender wäre es doch, für Champagner in der Holzklasse zu kämpfen statt für Tomatensaft. Aber vielleicht zeigt sich am Tomatensaft einfach nur, worum es am Ende so vielen von uns geht: Dass man bekommt, wovon man glaubt, dass es einem zusteht. Und dass auch mal »die Sorgen der Menschen« ernst genommen werden, wie es immer so schön heißt. Und wenn es nur durch eine kleine Nachfrage ist: »Salz und Pfeffer dazu?«