Inzwischen ist ja wieder vieles möglich. Man kann mit so vielen Leuten zusammen sein, wie man will, man kann Alkohol trinken, wo man will, und tanzen, so lange man will. Am besten finde ich allerdings, dass es keine Sperrstunde mehr gibt. Dass nicht plötzlich um 21, 22 oder 23 Uhr, je nachdem, welche Länderregel, Corona-Verordnung oder Infektionsschutzgesetzgebung gerade gilt, die Musik aus- und das Licht angeht. Und alle ihre Masken aufsetzen und das Lokal verlassen.
Es geht mir gar nicht so sehr darum, wieder Nächte durchmachen zu können oder diesen magischen Moment jeder Ausgehnacht zu erleben, wenn man aus dem Dunkel eines Clubs oder einer Bar kommt und draußen die Sonne aufgeht. Ich habe das, ehrlich gesagt, auch schon sehr lange nicht mehr erlebt, mein Tag endet meistens kurz nach 21 Uhr, der Zeit der Mütter. Aber für mich war die Sperrstunde nie nur eine Regel von vielen, mit denen man versucht hat, das Ausbreiten der Pandemie zu bekämpfen. Sie stand für etwas Größeres. Für das Gefühl, dass nichts mehr selbstverständlich ist, nicht einmal ein Abend in einer Kneipe.
Einst hat man Sperrstunden verhängt, um zu verhindern, dass in frühneuzeitlichen Städten Brände ausbrechen. In Zeiten, in denen es keine ordentliche Beleuchtung ab, hielt man die Leute damit nachts von den Straßen fern. Und die Sperrstunde hatte sehr oft mit Krieg zu tun. Die berühmte »Last Order« in den britischen Pubs geht auf den Ersten Weltkrieg zurück, als man Angst hatte, dass Soldaten nicht wehrfähig sind, wenn sie in der Nacht zuvor saufen. Sperrstunden gibt es, sobald es Krisen gibt, und wo Sperrstunden sind, da sind meistens auch Krisen.
Es gibt unzählige Geschichten über die Sperrstunde und darüber, wie Leute sie umgangen haben. In Australien haben die Leute schon nachmittags die Hotelbars gestürmt, weil die um 18 Uhr schließen mussten. In Großbritannien kam das Komasaufen auch deswegen auf, weil die Leute unter Zeitdruck viel zu viel tranken. Ähnliches passierte in Corona-Zeiten, ich erinnere mich noch gut an die österreichischen Wirte einer Weinbar, die die kürzeren Öffnungszeiten mit den Worten »Schnell fett, früh zu Bett« bewarben.
Am liebsten habe ich aber die Berliner Geschichte der Sperrstunde. Sie beginnt kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Stadt in Trümmern lag. Im Westen Berlins gab es eine Ausgangssperre, doch auf der anderen Seite, in der sowjetischen Zone, durften die Kneipen bis 22 Uhr offen haben. Also fuhren alle rüber, um zu trinken und Spaß zu haben. Bis es einem Westberliner Gastronomen reichte. Er ging mit einer Flasche Whisky zum Kommandanten des amerikanischen Sektors und machte ihm klar, dass man sich so etwas als freie Stadt nicht bieten lassen dürfe und eine Stadt ohne Sperrstunde eine noch viel freiere Stadt sei. So kam es auch, und Berliner Nächte mussten nie enden.
Wenn ich jetzt den Begriff »Sperrstunde« in eine Suchmaschine eingebe, erhalte ich wenige Treffer zu Corona und sehr viele zum Krieg. In der Ukraine werden gerade Ausgangssperren verhängt, weil die Städte angegriffen werden. Wir leben wieder in einer Zeit, in der es Sperrstunden gibt, weil es Krieg gibt. Und endlose Nächte nicht dafür stehen dürfen, wie frei und normal die Welt sein kann.