Sind wir Freunde?

Wo verläuft die Grenze zwischen Bekanntschaft und Freundschaft? Warum es auch auf den Moment ankommt, um den Wert einer Beziehung zu begreifen.

Illustration: Serge Bloch

»Meine Frage ist ganz einfach: Woran merke ich, dass ich mit jemandem befreundet bin beziehungsweise jemand mit mir befreundet ist und wir nicht ›nur‹ Bekannte sind? Eine Kollegin sagt über mich, wir seien befreundet. Ich könnte sie aber niemals in der berühmten Nacht anrufen, wenn ich in Not wäre. Sie erzählt mir nur selten Persönliches. Bei einem Paar dachte ich, wir seien befreundet. Wir sehen uns regelmäßig bei einem Tanzkurs und sitzen anschließend noch zusammen. Als ich von seinem Bandscheibenvorfall erfuhr, bot ich in einer Sprachnachricht an, zu Besuch zu kommen, falls es passt. Er hat gar nicht reagiert. Ich habe schon einiges zum Thema Freundschaft gelesen, unter anderem Aristoteles. Eine wirkliche Antwort habe ich noch nicht gefunden.« Beatrice F., Maintal

Wenn man mit Schmerzen im Krankenhaus ist, wird man ständig aufgefordert zu benennen, wie stark der Schmerz ist, und zwar auf einer Skala von 1 bis 10. Verblüffenderweise weiß man das meistens ganz genau. Sechseinhalb. Jetzt neun. Jetzt höchstens zwei. Vielleicht müsste man so auch an Bekanntschaften herangehen. Da gibt es doch mehr Nuancen als nur das eine oder das andere, nur Bekanntschaft oder gleich Freund. Vielleicht ist Ihre Kollegin eine Sieben bis Sechs, Tendenz fallend, während das Paar eine stabile Vier ist. Ohnehin ist ja alles immer im Fluss. Manchmal muss man Freunde auch innerlich auf den Grad einer Bekanntschaft hinunterstufen, weil das Ganze sonst einfach zu enttäuschend ist. Dafür können andere Bekannte sich auf einmal als Freunde entpuppen. Oder zu Freunden werden. Was auch immer ein Freund für einen ist. Der Begriff ist schließlich nicht geschützt und Auslegungssache. Siehe ­Facebook: Da kann man Hunderte Freunde haben, die man nicht mal persönlich kennt. Und es gibt übrigens Menschen, die gerade in der Not niemals jemanden anrufen würden und die dennoch viele sehr gute Freunde haben. Es gibt alles.

Und Sie wissen sehr genau, wen Sie als Freund empfinden und wen nicht, dazu brauchen Sie Aristoteles nicht. Steht alles en detail in Ihrer Frage. Sowohl von der Kollegin als auch von dem Paar aus dem Tanzkurs sind Sie enttäuscht, hätten sich mehr gewünscht. Aber mit Freundschaft ist es wie mit der Liebe: Man kann sie nicht einfordern. Manchmal passt es eben nicht, oder es passt im Moment nicht. Manchmal kommt man sich allein und ungeliebt vor – und ein paar Wochen später merkt man wieder, wie viele tolle Freunde man doch hat. Und was man auch nicht vergessen darf: Es gibt großartige Bekannte. Sie können interessanter sein als Freunde. Und wer weiß, was die Zukunft bringt.