»Meine Jugendliebe schenkte mir vor 15 Jahren zu unserem Jahrestag einen Schuhkarton voller Briefe, die ich an künftigen Jahrestagen öffnen sollte. Den vierten Jahrestag haben wir nicht mehr als Paar erlebt. In den Briefen, die ich in den folgenden Jahren öffnete, stand etwas wie: ›Hoffentlich geht es dir gut. Hoffentlich sind wir noch Freunde.‹ Ich bin verheiratet, meine Frau und ich haben drei Kinder. Von meiner Jugendliebe weiß ich nichts Näheres. Freunde sind wir nicht geblieben. Ich hege keinen Groll. Circa 20 Briefe wären in den nächsten 40 Jahren noch zu öffnen. Wäre es respektlos, die restlichen Briefe wegzuschmeißen?« Arndt H., Göttingen
Ihre Frage hat mich fast zu Tränen gerührt. Wahrscheinlich, weil sie so sachlich ist. Und doch so viel in ihr mitschwingt an großen Gefühlen, an die sich einmal Hoffnungen knüpften, die sich alle zerschlagen haben und in nichts aufgelöst, sodass zuletzt nur noch ein Packen Briefe bleibt. Ein bisschen Papier. Das nichts bedeutet. Aber halt, das stimmt ja nicht. Sonst würden Sie nicht zögern, die Briefe einfach zum Altpapier zu geben. Doch offenbar geht von ihnen immer noch ein gefühlter Auftrag an Sie aus. Nämlich: sie zu öffnen, jedes Jahr einen, um dieser alten Liebe zu gedenken. Das ist doch sehr rührend. Wäre Ihre Frage ein Film, es wäre eine romantische Komödie mit Meg Ryan und Tom Hanks, und wir alle wissen, was passieren würde, wenn sie sich wiedersehen, eigentlich nur, um die Briefe zurückzugeben, aber dann öffnet sie ihm die Tür … Und da sind so viele Erinnerungen … Und dann …
Aber zurück in die natürlich viel romantischere Realität, in der Sie seit so vielen Jahren Tag für Tag verheiratet sind. Und zu Ihrer Frage: Ich glaube, ich kann mir einfach mal anmaßen, Ihnen Ihre Sorge zu nehmen. Sie haben Ihrer verflossenen Beziehung genug Respekt gezollt. Wenn Ihnen danach ist, schmeißen Sie die restlichen Briefe weg. Sie müssen sich deswegen nicht grämen. Was allerdings auch aus Ihrer Frage spricht: eine ganz bezaubernde Treue. Da scheint noch eine Verbindung zu bestehen zwischen Ihnen und dem jungen Mann, der Sie einmal waren, damals, als das Leben vor Ihnen lag und Sie keine Ahnung hatten, worauf alles hinausläuft. Weil Sie ja ohnehin Ihre Gefühle haben: Warum versuchen Sie nicht, die Adresse Ihrer Jugendliebe herauszufinden, und schreiben ihr? Muss ja kein großer Brief sein. Einfach dass Sie keine Freunde geblieben sind, aber hoffen, es geht ihr gut.