Markus Unsöld ist Biologe bei der Zoologischen Staatssammlung München.
Als ich 1994 meinen ersten Waldrapp im Münchner Tierpark bewusst gesehen hab, dachte ich: »Mein Gott, was ist das für ein hässliches Viech!«
Nach ein paar Besuchen hat mir Burschi – so hieß das handaufgezogene Waldrapp-Weibchen – eine Feder als Balzgeschenk gebracht. Von da an waren wir sozusagen befreundet. Sie hat mich jedes Mal begrüßt und sich kraulen lassen. Und auf einmal war sie natürlich gar nicht mehr hässlich.
Durch den Kontakt mit ihr hab ich dann begonnen, mich für die Art an sich zu interessieren. Über ein Praktikum kam ich 1999 in Kontakt mit Johannes Fritz. Der hat 2002 das Waldrappteam gegründet, bei dem ich seit 2003 mitarbeite. Ziel dieses Projekts ist die Wiederansiedlung des Waldrapps als Zugvogel in Europa. Das Problem ist nämlich, dass er zwar ein Zugvogel ist, seine Zugroute und sein Wintergebiet aber erst lernen muss. Normalerweise von erfahrenen Artgenossen. Nur wurden Waldrappe vor vierhundert Jahren in Europa ausgerottet. Deshalb versuchen wir jetzt, wieder eine ziehende Kolonie aufzubauen, indem wir Jungvögel aufziehen und ihnen mithilfe von Ultraleichtfluggeräten den Weg in ein Gebiet in der Toskana zeigen, wo sie überwintern können.
In den ersten Jahren sind wir aus heutiger Sicht eigentlich völlig falsch geflogen. Und zwar hauptsächlich so, dass die Vögel zu viel Strecke aktiv fliegen mussten. Was sie eher nicht freiwillig machen würden. Vor allem zum Aufbau von Höhe nutzen sie lieber die Thermik oder sonstige Windunterstützung. Deshalb haben wir’s bis 2007 auch nie wirklich geschafft, über die Alpen zu kommen.
2008 war ich dann zum ersten Mal selber Ziehvater. Das heißt, dass man Waldrappnestlinge per Hand aufzieht, um eine möglichst enge Bindung aufzubauen, weil sie einem ja jederzeit folgen müssen, wenn man in Richtung Wintergebiet unterwegs ist. Und in dem Jahr ging’s zum ersten Mal östlich um die Alpen herum. Über Slowenien. Berge hat man da zwar auch, aber die sind wenigstens nicht ganz so hoch.
Zuerst müssen die Vögel sich natürlich an das Fluggerät gewöhnen. Das Training fängt schon damit an, dass sie – wenn sie noch ganz klein sind – Fluggeräusche vom Band vorgespielt kriegen, damit sie das später positiv assoziieren. Wir fliegen mit einem speziell für das Projekt umgebauten Ultraleichtflugzeug, einem Paraplane. Vorne sitzt der Pilot und hinten eine der beiden Ziehpersonen. Getragen wird das Ganze von einem riesigen Gleitschirm. Der hat den Vorteil, dass wir damit sehr langsam fliegen können, damit die Vögel mithalten können. Der Nachteil ist, dass dieser Schirm sich beim Start hebt, sich aufbläht, größer wird – was die Vögel am Anfang total erschreckt. Da müssen sie sich erst dran gewöhnen.
Nach viel Training am Boden versucht man dann auch mal den ersten gemeinsamen Flug. Beim ersten Versuch fliegt da allerdings meistens niemand mit. Die sind da noch derart geschockt! Man fliegt zuerst auch nicht weit weg, sondern bleibt noch in Sichtweite, damit die Vögel, wenn das Gerät wieder steht, zu einem herkommen können.
Und dann probiert man halt, das immer mehr auszudehnen. Bis es irgendwann losgeht in Richtung Wintergebiet. Mit Vögeln zu fliegen – das war für mich jedes Mal ein unglaubliches Erlebnis! Noch dazu, wenn man sie persönlich kennt – das ist fast wie bei Nils Holgersson und den Wildgänsen: Man zieht mit seiner Gruppe in den Süden; oft als Spitze der Formation; und die Vögel halten sich ja ganz nah bei einem auf und reagieren auf einen. Manchmal fliegen sie auch voraus, sodass es aussieht, als würden wir ihnen nur folgen; aber sie drehen immer wieder den Kopf und gucken, ob man noch da ist und reagieren auch sofort, wenn man in eine andere Richtung fliegt.
In dem Jahr – 2008 – ging’s allerdings gleich schlimm los. Bisher war nie etwas passiert, sodass wir auch keinen Schutzkorb gebraucht hatten. Diesmal kam schon beim ersten Flug ein Vogel in den Rotor. Einer von meinen Lieblingsvögeln, der Siri. Dem wurde die eine Hand abgehackt. Er segelte runter, lebte noch, hatte aber so schwere innere Verletzungen, dass er zwei, drei Tage später starb. Das war für mich ein ziemlicher Schock. Ich glaube, jeder der mal Vögel aufgezogen hat, kann das nachvollziehen: Es sind einfach Individuen. Keiner ist wie der andere. Manche sind eher zurückhaltend. Manche sind völlig unkompliziert. Wir hatten ein Geschwisterpaar – JoDi und Wiedsche – die sahen fast identisch aus. Aber vom Charakter her: Welten dazwischen! Oder wenn einem jemand auf dem Kopf gelandet ist: Julio! Das war sein Tick.
Ich stieg aus dem Auto aus, ging in ihre Richtung – und als sie mich sah, hob sie ab, flog auf mich zu und landete mir direkt in den Armen.
Die Einzigartigkeit jedes Vogels wird einem immer wieder bewusst. Ich kann mich noch gut erinnern: Einmal flog die Gruppe vielleicht so zwanzig Meter neben mir; und Luca schert aus der Formation aus, kommt zu mir, direkt ans Fluggerät, grüßt mich, mit diesem typischen Kopfnicken, bei dem der Schnabel hoch und runter geht, fliegt ungefähr eine Minute mit mir mit, so nah, dass sie gerade noch mit den Flügeln schlagen kann, ohne mich zu berühren, und kehrt dann wieder zurück in die Formation.
Und was halt bei all diesen Flügen unglaublich auffällig war: Die Vögel nutzen hinsichtlich Windströmungen und Thermiken alles aus, was geht. Dazu gibt’s eine Geschichte, die nur ein paar Tage später passierte – das werde ich nie vergessen. Wir konnten an dem Tag erst relativ spät starten. Und in den ersten Jahren flogen wir halt noch grundsätzlich außerhalb der Thermik, weil wir Angst hatten: Wenn die Vögel in einen sogenannten Thermikschlauch reinkommen – wusch! –, sind sie weg und wir verlieren sie. Dann kamen wir beim Anflug auf den Apennin allerdings mal tatsächlich in so eine Thermik. Die Vögel kreisten hoch. Und zwar so schnell, dass innerhalb von Sekunden nur noch Pünktchen zu sehen waren. Aber wir fingen einfach auch an zu kreisen. Und als der erste oben aus dem Thermikschlauch raus war, flogen wir ebenfalls weiter. Mit der Zeit kamen sie dann wieder her, warteten auf die nächste Thermik – und waren wieder weg. Sie flogen so energieeffizient, wie’s nur ging.
Aber dann passierte es: Alex berührte mit den Flügeln die Seile des Schirms und stürzte ab. Das gibt’s hin und wieder; meistens fallen die Vögel seitlich weg und fangen sich wieder. Aber Alex kam mit beiden Beinen in eine Verstrebung und hing auf einmal über mir, Kopf nach unten, mit hängenden Flügeln – er hing da wie tot, hatte allerdings die Augen weit offen. Und weil ich ihn nicht erreichen konnte, dachte ich natürlich, dass wir jetzt notlanden müssten. Aber Walter, unser Pilot, stellte den Motor aus, schnallte sich ab, stellte sich auf den Sitz und machte den Vogel los! Dann setzte er ihn mir auf den Schoß und sagte ganz ruhig: »Guck ihn durch, ob er okay ist. Wenn ja, dann schmeiß ihn raus, weil, ich würde jetzt gern wieder den Motor anlassen.« Wir sind bestimmt eine halbe Minute führerlos gesegelt!
Ich hab ihn – nachdem ich ihn kontrolliert hatte – dann tatsächlich rausgeschmissen. Wobei mir schon ein bisschen unwohl war, weil, ich wusste ja nicht: Steht er unter Schock, fliegt nicht, und stürzt mir vielleicht ganz ab? Aber er fing gleich an, mit den Flügeln zu schlagen, und hielt sich den Rest vom Flug ganz weit vom Fluggerät entfernt.
2009 war ich nochmal Ziehvater. Das letzte Küken, das wir in dem Jahr bekamen, war GoJa – benannt nach Jane Goodall, die ich sehr bewundere und die uns erst im Jahr zuvor besucht hatte. GoJa war anfangs sehr schwach und wollte einfach nicht fressen. Ich hab ihr immer den Schnabel ganz leicht öffnen müssen, um ihr irgendwie das Futter mit dem Finger reinschieben zu können – und ich denke, dass sich dadurch eine besondere Bindung zwischen uns beiden ausgebildet hat.
Allerdings war 2009 erst mal vom Wetter her eine herbe Enttäuschung. Wir konnten kaum Trainingsflüge machen. Die Vögel lernten praktisch erst während der Migration, wie man mit uns fliegt. Dann, auf einem der ersten Flüge, schien’s zuerst ähnlich weiterzugehen. Da war die Gruppe von elf Vögeln vollzählig dabei, ist aber nicht zuverlässig mitgeflogen. Nach einer Stunde waren auf einmal alle weg! Auch das ist kein Grund zu verzweifeln, weil sie in solchen Fällen normalerweise zum letzten Startpunkt zurückfliegen; und da kann man sie wieder einsammeln. In dem Fall war’s aber so, dass nur zehn von elf Vögeln umgekehrt waren. GoJa war immer noch dabei! Ich hab sie zuerst gar nicht gesehen, hab aber dann doch mal hochgeguckt – und da war sie! Was bei einem Vogel, der sonst alles in der Gruppe macht, ein riesiger Vertrauensbeweis ist. Und sie flog auch bis zur Landung mit, und kam danach gleich zu mir her.
Aber es geht noch weiter: Nach einer Stunde bekamen wir den Anruf, dass alle anderen Vögel wieder am Startpunkt gelandet waren. Ich ließ also GoJa bei Arvid, dem anderen Ziehvater in diesem Jahr und Martin – ein anderer Kollege von mir – fuhr mit mir los in Richtung Startpunkt. Zehn Minuten später kam ein neuer Anruf: »GoJa ist jetzt auch weg.« Sie hat vermutlich mich gesucht. Wir fuhren erst mal weiter zum Startpunkt, ich packte die Vögel ein und wartete auf GoJa. Sie kam aber nicht. Hab ich Johannes angerufen, unseren Projektleiter: »Ruf doch mal beim vorletzten Startpunkt an.« Sagt er: »Nein, das hat bisher noch kein Vogel gemacht.« Und er hat tatsächlich nicht dort angerufen – hat allerdings später mich angerufen, weil sich jemand vom Flughafen bei ihm gemeldet hatte, dass gerade ein Waldrapp gelandet ist.
Ich fuhr also mit Martin dort hin – es war kurz vor Dämmerung – und sah GoJa schon auf dem Flugfeld; stieg aus dem Auto aus; ging in ihre Richtung – und als sie mich sah, hob sie ab, flog auf mich zu und landete mir direkt in den Armen. Das war so unglaublich schön – dass sie so ein Vertrauen hatte und sich so freute. So was macht ein Vogel normalerweise nicht. Die landen einem vielleicht mal auf der Schulter oder auf dem Kopf – aber GoJa war einfach in jeder Beziehung ein Wahnsinnsvogel.
Tja, und dann war das das erste Jahr, wo alle Vögel, die gestartet waren, auch tatsächlich am Ziel angekommen sind. Es hat recht lang gedauert, aber wir haben sie alle runter in die Toskana gebracht.
Dort endet erst mal die Arbeit der Zieheltern. Wenn die Vögel sozusagen entwöhnt und in die Gruppe der Wildvögel integriert sind, ziehen wir uns immer mehr zurück. Wobei ich dazu sagen muss, dass bis dahin noch kein Vogel den Weg zurück ins Brutgebiet gefunden hatte – soweit wir wissen jedenfalls. 2011 sah’s erst auch nicht besser aus. Noch dazu war GoJa im April auf einmal verschwunden. Am 28. Juli rief Johannes bei mir an und sagte: »Du glaubst nicht, was passiert ist.« Und zwar waren Kollegen in Burghausen – dem Startpunkt der Migrationen der letzten Jahre – gerade dabei gewesen, Jungvögel zu besendern. Plötzlich sitzt ein Waldrapp mit zwei goldenen Ringen am Fuß auf der Voliere. Und das war GoJas Ringkombination! An der war sie leicht zu erkennen ...
Wir haben natürlich gleich gesagt: »Okay, fahren wir nach Burghausen.« Und da war sie tatsächlich. Sie ist mir auch gleich wieder entgegengeflogen, hat sich durchkraulen lassen ...
Das ist schon unglaublich: Du stehst irgendwo mitten in der Pampa und rufst, und ein freilebender Vogel kommt runtergeflogen zu dir.
Eine Woche später kam der Bayerische Rundfunk zu einem Dreh vorbei. Da wurde nachgestellt, wie GoJa zurückkommt, wie man ihr den Sender runtermacht – den wir bei der Gelegenheit gleich aufladen und ihr abends wieder draufmachen wollten. Nur war GoJa dann auf einmal verschwunden. Und die drei Jungvögel waren auch nicht mehr da. Die vier waren Richtung Süden geflogen. GoJa hatte also ausgerechnet in dem Moment das umgesetzt, was wir uns erhofft hatten: dass nämlich zugerfahrene Vögel den Jungvögeln den Weg ins Wintergebiet zeigen.
Zum Glück hatten wir wenigstens die Positionen der Jungvögel, weil die nämlich funktionierende Sender drauf hatten. Also haben wir gesagt: »Wir müssen halt morgens ganz früh losfahren, bevor die selber wieder starten.« Weil, zum Übernachten bleiben sie sitzen und fliegen erst los, wenn’s wieder hell ist.
Am nächsten Tag war’s sehr regnerisch – und als wir ankamen, saßen da tatsächlich vier Waldrappe auf einer Stromleitung. Ich hab GoJa dann gerufen und sie ist auch gekommen und die Jungen sind hinterher. Das Problem war nur: die Jungen waren von den Eltern aufgezogen und waren von daher total scheu. Und irgendwie ließ sich GoJa davon anstecken und alle flogen erst mal wieder hoch und setzten sich erneut auf die Stromleitung. Beim nächsten Versuch kam GoJa alleine – und ich konnte sie nehmen und sie bekam endlich ihren aufgeladenen Sender. Wobei so ein Sender aber nicht nur eine Art Lebensversicherung für jeden Vogel ist, sodass wir wissen, wo er sich aufhält, sondern auch Informationen über das Zugverhalten liefert. Die größte Überraschung war zum Beispiel, dass GoJa und die anderen direkt über die Alpen zurück nach Norden flogen, obwohl wir sie hinwärts außenrum geführt hatten. Waldrappe müssen also nicht die Route nehmen, die man ihnen zeigt, sondern können navigieren. So wie es aussieht, brauchen sie einen Startpunkt und einen Zielpunkt und müssen einmal geflogen sein. Den Rest können sie selber berechnen.
Jetzt war aber GoJas Sender ein paar Wochen nach unserem letzten Treffen schon wieder fast leer. Ich bin also mit Martin nachts zu ihrem Schlafplatz gefahren – sie saß wieder auf einer Stromleitung – und hab sie am Morgen gerufen. Sie kam auch gleich her. Und das ist halt schon unglaublich: Du stehst irgendwo mitten in der Pampa und rufst, und ein freilebender Vogel kommt runtergeflogen zu dir. Dadurch konnte man auch den Sender leicht wechseln.
Im nächsten Frühjahr hat GoJa dann drei Jungvögel aufgezogen. Aber im Oktober – ich war gerade mit meiner Mutter einkaufen – rief auf einmal Johannes an und meinte niedergeschlagen: »GoJa ist geschossen worden.« Sie war gerade mit einem ihrer Jungen in Italien unterwegs gewesen, mit Jedi ... Und kurz vor dem Ziel waren sie in ein Gebiet geflogen, wo schon öfters Waldrappe verschwunden sind. Deshalb war Anne, eine der jetzigen Ziehmütter, auch schon unterwegs und sollte die beiden einfangen. Spätabends hatte sie sogar noch die Position am Laptop gesehen und wollte am nächsten Morgen gleich dort hin. Aber dann flogen die beiden schon ein bisschen früher weiter, und Anne kam eine halbe Stunde zu spät. Sie fand die beiden dann noch lebend; ein Jäger hat sie geschossen und liegenlassen – obwohl sie nicht tot waren – und hatte eigentlich nur einen Taubenjagdschein; hat auch behauptet, er hätte sie für Tauben gehalten; was bei so großen Vögeln mit eineinviertel Metern Spannweite und derart langem Schnabel und Hals schon sehr unglaubwürdig ist.
Aber so blöd wie sich’s anhört: Für’s Projekt hat der Abschuss dann doch noch was gebracht: Wir hatten zum ersten Mal einen Wilderer auf frischer Tat ertappt. In Italien wurde über den Fall groß berichtet. Der Jäger ist wegen Wilderei verurteilt worden, hat Berufung eingelegt und ist von höchster Instanz noch mal schuldig gesprochen worden. Da wird’s jetzt auch noch einen Zivilprozess geben, der über eine fünfstellige Summe laufen wird; damit’s richtig weh tut und ein Umdenken einsetzt. Nur schade, dass ausgerechnet GoJa dafür erst sterben musste.
Nachtrag: Seit 2014 schafft es das Waldrapp-Team auch jedes Jahr über die Alpen!