Ich habe im Alltag eigentlich immer das Gefühl, eine Rolle zu spielen. Eine Person, die schon vage mit mir zu tun hat, aber auch eine polierte Vorzeigeversion von mir ist, die zu der Situation passt. Ich bin eine höflich grüßende, paketannehmende Nachbarin. Eine emsig vor sich hin arbeitende Kollegin. Eine gute Bekannte, eine Fitnessstudiokursteilnehmerin, eine Tochter, eine Enkeltochter, eine Schwester, eine Patentante, eine gute Freundin, eine enge Freundin. Immer darauf bedacht, angenehm zu sein, die Vorstellungen anderer zu erfüllen, nicht zu viel einzufordern.
Weil ich einen Hang dazu habe, die beste Version meiner selbst sein zu wollen, kann ich aber auch eindeutig sagen, wann ich verliebt bin, so richtig Hals über Kopf. Denn dann zählt das alles nichts mehr. Meine Pappaufsteller-Version kippt um.
Denn wenn ich liebe, zeige ich plötzlich die Seiten meines Charakters, die ich selbst nicht mag. Die Spitzen, die ich sonst im Alltag abschleife. Kann nicht mehr verbergen, wenn ich mich in manchen Momenten klein fühle. Werde für meinen Geschmack zu laut, zu fordernd, zu nähebedürftig, zu anhänglich. Ich schaffe es nicht mehr, eine Rolle zu spielen. Und ich will es nicht mehr. Es geht mir zu nah.
Weil ich so gewöhnt daran bin, eine zweite Ebene zu haben, meine Schutzschichten zu spüren, macht mir das Angst. Aber gleichzeitig steckt darin auch eine sehr tröstende Erfahrung: Ich habe gelernt, dass ich nicht trotz meiner vermeintlich schlechten Seiten liebenswert bin. Sondern vor allem dann, wenn ich die Freiheit spüre, sie zu zeigen.