Abschied von Lucky

Der Fotograf Jorge del Río hat drei Wochen im Waisenhaus von Mama Makimei in Kenia verbracht. Krankheiten, Tod und Trauma sind dort allgegenwärtig. Trotzdem lässt das Begräbnis eines Babys niemanden kalt.



Name: Jorge del Río de Echávarri
Geboren: 1991 in Mexiko City
Ausbildung: Universidad Iberoamericana in Mexiko City, Abschluss in Kommunikation und Journalismus
Wohnort: Mexiko City
Instagram: jorgedelrio.e

SZ-Magazin: Wie kamen Sie dazu, diese Reportage zu fotografieren?
Jorge del Río de Echávarri: Ich habe im Sommer 2014 in Kenia drei Wochen lang Freiwilligenarbeit in einem Waisenhaus geleistet. In Kinoo, gleich außerhalb von Nairobi. Ich kannte Kenia schon, weil ich mit 13 mit meinen Eltern im Naturschutzgebiet Masai Mara war und immer dorthin zurückkehren wollte. Etwas weiter weg von den touristischen Orten, die ich damals mit meinen Eltern gesehen habe, lebten die »echten« Kenianer. Ich bewunderte deren Ruhe, Freundlichkeit und Lebensfreude, die sie trotz prekärer Lebensverhältnisse an den Tag legten. Deshalb bin ich 2014 noch einmal nach Kenia zurückgekehrt, weil ich erleben wollte, wie das Leben dort wirklich ist.

Aus welchen Gründen sind die Kinder im Waisenhaus in Kinoo?
Die Geschichten der Kinder sind eine Art Spiegel der afrikanischen Realität. Die Eltern von ein paar Kindern sind an Aids gestorben, andere waren vor den Konflikten in Kenias Nachbarländern geflohen, wie zum Beispiel aus Uganda, und auf der Flucht gestorben. Der Großteil der Kinder wurde aber nach der Geburt weggegeben, weil die Eltern nicht für sie sorgen konnten. Einmal kam sogar ein Hund zum Waisenhaus, der einen Müllsack hinter sich her schleifte. Darin fand man zwei Babys, die noch lebten – der Hund hatte sie gerettet.

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Wie sieht das Leben im Waisenhaus aus?
Die großen Kinder gehen in die Schule. Die jüngeren Kinder und die Babys bleiben den ganzen Tag im Waisenhaus. Ein Tag bei den großen Kindern sieht immer gleich aus: früh aufstehen, zu Fuß in die Schule gehen, die sehr weit entfernt ist, danach kommen sie nach Hause und müssen Arbeiten im Haus oder Aufgaben erledigen und auf die Babys aufpassen. Zum Abendessen gibt es dann Reis und Kartoffeln. Die mittleren Kinder bleiben im Waisenhaus, ihr Tag besteht aus spielen im Garten, Bilder malen und Ähnlichem. Die Großen passen auf die Kleinen auf, je nach Alter und Erfahrung bekommen sie dann immer mehr Aufgaben. Sie bringen den Jüngeren bei, was sie in der Schule gelernt haben. Das Waisenhaus ist eine enge Gemeinschaft.

Wie viele Kinder sind im Waisenhaus und wie viele Personen kümmern sich um sie?
Etwas über 30 Kinder, die Hälfte ist zwischen zehn und fünfzehn Jahren alt – also Schulalter. Um sie kümmern sich Mama Makimei und eine Köchin. Sie sprach kein Wort Englisch und schälte den ganzen Tag Kartoffeln oder kochte Reis, manchmal wusch sie Kleidung.

Wer ist Mama Makimei?
Sie ist die Direktorin des Waisenhauses, sozusagen die »Mutter« der Kinder. Sie ist liebevoll und sensibel, macht sich Sorgen um das Wohlergehen der Kinder, von denen sie selbst als »meine Kinder« spricht. Auf der anderen Seite, bedingt durch die Situation und die Menge an Kindern dort, kann sie sehr streng sein. Sie hat eine außergewöhnliche Präsenz, wie ein Schuldirektor. Wenn sie etwas anordnet, macht jeder sofort was sie sagt, ohne Nachfragen und ohne Murren. Wenn sie vom Markt zurückkommt, kümmert sie sich um die Babys. Dann geht sie die Gänge entlang und sieht nach, ob alles in Ordnung ist. »How are you Jessica? How is my little Djenga?« sagt sie dann zu den Kindern und gibt ihnen einen Kuss auf die Stirn. Danach setzt sie sich meist in ihren Sessel, atmet entspannt aus, blickt in die Ferne. Sie ist wie eine liebevolle Mutter, mit einer gewissen Distanziertheit und Härte, die ihr die Erfahrungen der Jahre gebracht haben.

Was genau war Ihre Aufgabe?
Putzen, auf die Kinder aufpassen, auf den Markt gehen und Essen einkaufen. Zumindest zu Beginn war es schwierig, nach dem Einkaufen wieder nach Hause zu finden – und die Eindrücke des Tages zu verarbeiten. Wir konnten ja nicht nachfragen, warum dies und jenes jetzt passiert oder wie es den Menschen geht. Besonders schwierig war es, die Dinge einfach zu akzeptieren wie sie sind. Auch der Rückweg vom Begräbnis von Lucky war so. Ich erinnere mich, dass ich dachte: »Morgen muss ich wieder die Böden wischen und mit den Kindern spielen« – ich verstand in diesem Moment, wie die Leute dort denken: »Das Leben muss weitergehen.«

Woran starb der kleine Lucky?

Soweit ich das mit einer anderen Freiwilligen aus den USA, sie ist Krankenschwester, verstehen konnte, hatte Lucky eine schwere Lungenentzündung, die, wie ich denke, auf die hygienischen Zustände dort zurückzuführen war. Gleichzeitig gibt es in Kenia nicht genug Untersuchungen vor und nach der Geburt, er war einfach schlecht versorgt. Lucky hatte einen Atemstillstand, er war erst zwei Monate alt.

Wie war das Begräbnis?
Das Begräbnis begann in einem Krankenhaus nahe Nairobi. Mama Makimei hatte einen Lastwagen gemietet, der die Kinder zur Aufbahrungshalle brachte. Am Anfang waren nur ein paar Frauen und Mama Makimei im Raum. Dann kamen die Kinder, die sich in einer Reihe aufstellten, um sich von Lucky zu verabschieden. Die Kleinsten verstanden nicht ganz, worum es ging, waren aber traurig, weil sie Mama Makimei weinen sahen. Die Älteren hingegen verabschiedeten sich der Reihe nach weinend von Lucky. Danach fand im Waisenhaus eine christliche Zeremonie statt, eine Messe wurde gehalten – man hatte Fürbitten und Gebete vorbereitet, die vorgelesen und gesungen wurden.

Wie ging es weiter?
Mama Makimei erzählte die Geschichte, wie sie Lucky adoptiert hatte und verteilte Bilder von ihm. Dann gingen wir zu Fuß zum Friedhof, der nicht weit entfernt liegt. Als der Sarg in die Erde hinunter gelassen wurde, spürte man die größte Traurigkeit. Es wurden afrikanische Leider gesungen, die unterbrochen wurden vom Weinen der Kinder. Auf dem Weg zurück sprach keiner. Für mich war es ein Begräbnis auf dem mehr gesungen wurde, als ich es gewöhnt bin. Afrikanische Lieder, die teilweise fröhlich klangen. Es war für mich eine große Ehre, Teil eines solch intimen Ereignisses sein zu dürfen.

Fotos: Jorge del Río