»Die leeren Kneipen waren voller Sorgen«

In der Ausgehstadt Berlin sind wie überall die Lokale geschlossen. Wie sieht es darin aus? Und wie geht es den Besitzerinnen und Besitzern? Sebastian Semmer porträtierte Traditionskneipen in verschiedenen Berliner Bezirken – und erfuhr, dass Corona für diese nicht das einzige Problem ist.

Name: Sebastian Semmer
Geburtsjahr: 1970
Wohnort: Kleinmachnow, Brandenburg
Website: www.foto-semmer.de

SZ–Magazin: Wie sind Sie auf die Idee gekommen, dreißig Kneipen während des zweiten Teil-Lockdowns zu fotografieren?
Sebastian Semmer: Als junger Mann zur Wendezeit habe ich verpasst, den Mauerfall zu dokumentieren. Dabei war ich damals schon ein ambitionierter Fotograf. Heute haben wir wieder so eine historische Zeit, so etwas wie diese Pandemie haben wir noch nicht erlebt. Beim ersten Lockdown sind meine Aufträge abgesagt worden. Ich habe mich zurückgezogen, Sport getrieben und leere Plätze fotografiert. Als der zweite Lockdown kam, wollte ich nicht schon wieder meine Chance verpassen, denn bis heute hadere ich mit meinem 20-jährigen Selbst. Deswegen nahm ich mir vor, in 30 Tagen 30 Kneipen zu fotografieren. Mehr als die menschenleeren Orte interessiert mich der menschliche Umgang mit der aktuellen Situation. Es ist eine schreckliche, aber auch spannende Zeit.

Wie haben Sie die Kneipen ausgewählt?
Ich wollte einen guten Querschnitt durch die Bezirke. Rein geografisch von Ost bis West. In Wilmersdorf war ich im Kuchel Eck, im Bergmannkiez im Turandot, in Charlottenburg im Goldesel. In Kreuzberg habe ich die Santa Maria Bar fotografiert - die passt nicht ganz so gut in meine Reihe, weil sie ein Hybrid aus moderner Bar und mexikanischem Restaurant ist. Ich war gerade auf dem Heimweg, ein bisschen frustriert, weil ich von einem anderen Kneipenbesitzer versetzt worden bin. Da stand in Boxershorts ein australischer Mann vor mir auf der Straße, ein Mitarbeiter der Santa Maria Bar, um einem Autofahrer das Take-Away-Essen durchs Fenster zu reichen und ließ sich spontan fotografieren.

Meistgelesen diese Woche:

Wie haben Sie die Stimmung in den Kneipen wahrgenommen?
Das war sehr unterschiedlich, ich habe jetzt keinen betrübten Haufen an Gastronomen getroffen, aber die leeren Kneipen waren voller Sorgen und Einzelschicksale. Die Besitzerin des Metzer Eck, einer alten Kneipe am Prenzlauer Berg, war sehr beunruhigt. Sie hat vor dem Lockdown Tausende Euro in die Hygienemaßnahmen investiert und weiße Zelte, die man von Hochzeiten kennt, im Außenbereich aufgestellt. Das war nun ja umsonst. Genauso angespannt war die Geschäftsführerin vom Kuchel Eck, die zudem gerade frisch Mutter geworden ist, die Kneipe von ihren Eltern übernommen hat und jetzt mit der Bürokratie kämpft, um Kredite und Unterstützung vom Staat zu bekommen. Der Besitzer der Punkkneipe Trinkteufel in Kreuzberg, der sonst auch als Tourbegleiter bei Rockkonzerten arbeitet, hat mehr Angst, sein Umfeld lange nicht zu sehen, als davor, dass seine Kneipe pleite geht. Und der Besitzer von Försters Feine Biere, einem Bierlokal in Steglitz, entwickelt Ideen, wie er trotz Lockdown Geld verdienen kann. Zusammen mit seiner Frau hat er einen Bier-Adventskalender erfunden, eine Kiste mit 24 unterschiedlichen Sorten. Er hat seine Bar in einen Getränkehandel verwandelt.

Was hat Sie überrascht?
Bis auf wenige Ausnahmen mussten die Kneipiers die volle Miete zahlen. Bei einer Kneipe ist der Vermieter entgegengekommen, hat angeboten, dass die Zahlung erstmal ausgesetzt werden kann, solange es keine Einnahmen gibt. Dass nicht alle Vermieter Verständnis haben, hat mich gewundert, denn die Kneipenszene gibt Berlin eine besondere Identität. Gibt es sie nicht mehr, dann reihen sich nur noch Coffee-Companys und Nagelstudios aneinander. Ich hätte gedacht, dass mehr Vermieter Interesse hätten, diese Kultur zu schützen. Deswegen möchte ich mit meinem Projekt die Kneipen unterstützen, mehr Aufmerksamkeit auf ihre prekären Lagen lenken und ein Zeitdokument schaffen. Nach Corona möchte ich wieder an dieselben Orte gehen. Ich befürchte, dass ein Teil der Kneipen die Pandemie nicht überleben wird.

Der November-Lockdown wurde bis kurz vor Weihnachten verlängert. Wie nehmen diese Entscheidung die Wirte auf?
Unerwartet hat es niemanden getroffen, die Zahlen sind weiterhin sehr hoch. Die Gastronomie ist in einer Zwickmühle. Wenn die Neuinfektionen zurückgehen, dann wäre das der Beweis für ihre Schuld an der zweiten Welle und bleiben die Zahlen hoch, dann müssen sie weiterhin geschlossen haben. Die meisten haben Existenzängste, aber verstehen die Maßnahmen der Regierung. Zumindest die, die ich bisher getroffen habe. Ich fotografiere auf jeden Fall bis zum Ende des Lockdowns weiter.

Museen, Theater und Restaurants sind ebenfalls vom Teil-Lockdown betroffen und haben geschlossen. Warum haben Sie sich bei Ihrem Projekt für Bars entschieden?
Berliner Traditionskneipen waren schon vor Corona und der zweiten Schließung in ihrer Existenz bedroht. Es fehlt eine gemeinsame Lobby. Dabei waren sie immer schon eine Anlaufstelle, um sich auszutauschen, Geschäfte abzuschließen und ein bisschen Lokalpatriotismus zu feiern. Eine Berliner Kneipe ist eine eingeschworene Kiez-Gemeinschaft. Die Clubszene und cleane Cafés verdrängen die Traditionsbetriebe, in die sich Touristen und Hipster vom Prenzlauer Berg oder Friedrichshain fast nie verirren. Gespräche über vegane Kinderernährung und das kreativste Kakaomuster auf dem Milchschaum, gibt es dort eher selten. Die Kneipiers sind Ersatz-Psychologen, die meisten richtige Originale. Ähnlich wie Berliner Taxifahrer, denen nachgesagt wird, dass sie die ehrlichsten Stimmen der Stadt hätten, ist die Kneipenszene für mich der authentischste Spiegel der Stadt.