Echte Träume und falsche Handtaschen

Wir stellen Ihnen jede Woche junge, talentierte Fotografen vor. Diesmal: Kirill Golovchenko und seine Aufnahmen vom größten Markt Europas, genannt »7 Kilometer«, bei Odessa.

Name: Kirill Golovchenko
Geboren: 1974 in Odessa, Ukraine
Ausbildung: Hochschule Darmstadt Kommunikationsdesign
Homepage: www.kirillgolovchenko.com

SZ-Magazin: Herr Golovchenko, vielleicht erzählen Sie kurz, wie der Markt entstanden ist, den wir auf Ihren Bildern sehen.
Kirill Golovchenko: Sieben Kilometer vor den Toren Odessas befindet sich der größte Marktplatz Europas. Den alten Teil des Marktes nennt man "Feld der Wunder". Die Anfänge des Marktes gehen auf den Zweiten Weltkrieg zurück, 1989 wurde aus dem berühmtesten Trödelmarkt der Sowjetunion nach und nach Europas größtes Einkaufszentrum - fast zehn Mal größer als das Centro in Oberhausen und doppelt so groß wie die berühmte Mall of America in den Vereinigten Staaten. Die "Geschäfte" sind unzählige Reihen aufeinander gestapelter Schiffscontainer, angeblich rund 16 000 Stück. Oben werden die Waren gelagert, eine Etage tiefer wird verkauft. Auf dem Markt arbeiten etwa 20 000 Verkäufer und 10 000 Träger, der geschätzte Umsatz beträgt täglich über 20 Millionen US-Dollar. Es gibt Spielzeug und Schuhe, Töpfe und Kosmetik, CDs und Computer, Autos und Waschmaschinen, Stifte und Bettwäsche, Bücher, Besen und natürlich Klamotten. Fast alles ist auffällig billig, selbst für ukrainische Verhältnisse. Die meisten Waren, die auf dem Markt angeboten werden, sind aus China, der Türkei oder "Importe aus Odessa". Jedem Besucher des Marktes ist klar, dass unmöglich alles mit rechten Dingen zugehen kann, wenn Chanel No.5-Flaschen für drei Dollar und Nike-Turnschuhe für 25 Dollar verkauft werden.

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Sie stammen aus Odessa, was verbindet Sie mit dem Markt?
Meine Eltern erzählen mir gerne die folgende Geschichte: Als ich als Baby etwa ein halbes Jahr alt war, habe ich drei Tage und Nächte lang geschrien – weil ich meinen Import-Schnuller durchgekaut hatte und die russischen Ersatzschnuller wohl nicht so angenehm im Mund waren. Ich habe erst aufgehört zu weinen, als mir meine Oma einen neuen, importierten Schnuller gekauft hat - auf eben diesem Markt. In den Neunzigerjahren habe ich dort auch gearbeitet, wir hatten mit Freunden ein kleines Geschäft gegründet und Ledergürtel hergestellt, der Name war Krokodil, eine Ableitung von Lacoste, und darauf stand Made in Spain. Der Markt war damals noch kleiner, es gab keine Container, nur einfache Metallstände.

Es werden jede Menge gefälschter Produkte dort verkauft. Waren die Menschen Ihnen als Fotografen gegenüber misstrauisch? 
Ja, die offizielle Erlaubnis zu bekommen, war schon schwierig. Die Händler verstehen nicht, warum man sie aufnehmen möchte, und die Polizei findet es auch nicht gut. Die dachten, ich sei ein Spion oder so etwas. Ich habe übrigens beim Fotografieren ungefähr zwei Wochen gebraucht, um mich orientieren zu können und jederzeit zu wissen, wo ich bin.

Haben Sie ein Lieblingsfoto, das Ihrer Meinung nach alles auf den Punkt bringt?
Das Bild mit den Frauenbeinen in goldenen Schuhen. Die Frau trägt solche Schuhe und zieht eine verrostete Karre – das beschreibt den Markt sehr gut, das Gegensätzliche, den postsowjetischen Kapitalismus. Man nennt diese Karren, die alle benutzen, Krawtschutschkas, nach dem ersten ukrainischen Präsidenten Leonid Krawtschuk, der die Ukraine für den freien Handel geöffnet hat.

Was kaufen Sie sich selbst, wenn Sie den Markt besuchen?
In meiner Jugend haben wir dort alles gekauft, Kleidung insbesondere. Neulich habe ich Kinderspielzeug gekauft - mit dem Kinder besser nicht spielen sollten. So Militärzeugs, oder eine komische aufblasbare Superman-Puppe, die rosafarben ist. Niemand in meiner Familie versteht, warum ich so Dinge kaufe. Aber ich finde es kurios.

Sie schreiben im Begleittext zu Ihren Fotos, dass der Markt verschwinden wird. Warum? Haben die Leute inzwischen genug Geld, um sich die Originale von Adidas zu kaufen?

Dafür werden die meisten Ukrainier nie das Geld haben – obwohl auf "7 Kilometer" gefälschte Sachen verkauft werden, befriedigt der Markt die Sehnsüchte der Leute, zumindest für den Anfang des Kapitalismus bei uns ist er gut. Aber die Besitzer haben sich buchstäblich geschämt für ihre Container – dabei haben die eigentlich etwas Tolles geschaffen. Ich habe ähnliche Märkte in Osteuropa besucht, aber nie einen so großen, so organisierten und doch so chaotischen Ort  gesehen.

Eine letzte Frage noch: Wem gehört der Porsche mit dem XXXXXXX-Kennzeichen?
Ich habe mit Bekannten gesprochen und die meinten, dass es jemand von der Regierung sei. Aber niemand will dort mit dem schmutzigen, grauen "7 Kilometer" in Verbindung gebracht werden.