Ich träume schon lange von einem dunkelroten Mantel. Es gibt eigentlich eine Faustregel: Wenn man nach einem bestimmten Kleidungsstück sucht, findet man es in keinem Geschäft. Aber in diesem Fall war das anders. Vor kurzem habe ich meine Enkelin in München besucht, da hing er plötzlich. Schnitt, Farbe, alles wie in meinem Kopf. Ein angenehmer Wollstoff, zu kalt für klirrende Minustemperaturen, aber gerade richtig für die ersten warmen Frühlingstage.
Früher hätte ich den Mantel genommen, wäre zur Kasse gelaufen und hätte gezahlt, was immer sie hätten haben wollen. Wie man sich eben verhalten sollte, wenn man seinen Traummantel findet. Heute zögere ich in solchen Momenten. Denn eine Frage beißt sich in meinem Kopf fest: Lohnt sich das noch?
Ich weiß nicht, an wie vielen warmen Frühlingstagen ich den Mantel noch tragen kann. Denn das hängt ziemlich eng mit der Frage zusammen, wie viele warme Frühlingstage ich noch erleben werde. Früher kam mir das Leben endlos vor. Jetzt nicht mehr. Die Jahre, die noch vor mir liegen, schnurren auf eine recht überschaubare Anzahl zusammen.
In einem Buch von François Lelord habe ich einmal einen schönen Vergleich gelesen: Ein Hund lebt etwa 15 Jahre. Wer jung ist, kann den Eindruck haben, sein Leben noch mit vielen Hunden teilen zu können. Aber je älter man wird, desto kleiner wird auch die Zahl der Hunde, die man bis zu seinem Tod noch besitzen könnte. Bei mir ist vielleicht noch ein Hundeleben übrig, mehr nicht. Und das muss ich auf die Frage anwenden, wie viele rote Mäntel ich mir noch kaufen kann. Oder sollte.
Ich ringe besonders mit mir, wenn es um Dinge geht, die nach meinem Tod offensichtlich in einen Müllcontainer oder in die Altkleidersammlung wandern werden. Bei anderen Sachen mache ich mir keine Gedanken. Mein iPad wird nach meinem Tod schon einen Abnehmer finden. Ich habe extra die neuere Version gekauft, sonst ist es veraltet, bis meine Enkel es erben. Handtaschen: freut sich schon jemand drüber. Schmuck: sowieso. Aber Kleidung? Ich bin viel kleiner als die anderen Frauen in meiner Familie, bei meinen Töchtern würde der rote Mantel vielleicht gerade über die Hüfte reichen.
Das Schlimme ist: Ich stolpere ständig über die Rote-Mantel-Problematik. Ich bin vor dem Tod meines Mannes in eine kleine Wohnung gezogen. Als ich neulich im Wohnzimmer gesaugt habe, fiel mir auf, dass einer der Teppiche viele Fransen zieht. Er ist handgeknüpft und hat eigentlich eine gute Qualität. Aber ich kann ihm die Fransen nicht verübeln, er ist fast so alt wie ich.
Wäre ich jung, wären mir die Fransen egal. Dann bekäme ich Besuch von anderen jungen Menschen, die nicht darauf achten, ob Teppiche Fäden verlieren. Meine Gäste sind aber meistens etwas älter und achten auf den Zustand von Auslegeware.
Ich hatte mein Schicksal fast akzeptiert: Dann muss ich eben für eine schnöde Sache wie einen Teppich noch mal Geld ausgeben. Aber mir kam eine viel bessere Idee. Ich drehte den Teppich einfach um. Die Seite mit den Fransen liegt jetzt unter dem Sofa, wo sie selbst der genaueste Besuch nicht findet. Und die andere Seite des Teppichs, die in den Raum ragt, sieht ordentlich aus.
Die Möbel und den Teppich zu verrücken, war anstrengend. Danach hatte ich eine Pause an der frischen Luft dringend notwendig. Ich lief in den Flur und schlüpfte in den roten Mantel, der dort auf mich wartete.
Ich habe beschlossen, dass in meinem Leben noch etwas Frühling da zu sein hat.