Es gab in meiner Kindheit einen Termin, bei dem man sehen konnte, was sich alle Dorfbewohner in den letzten Monaten an Klamotten gekauft hatten: Allerheiligen. Auch ich sah nie hübscher aus als auf dem Friedhof. Meine Mutter bürstete mir die Haare besonders gründlich, steckte sie hoch und erlaubte mir, den Plisseerock zu tragen, den ich sonst nur an Familienfesten und meinem Geburtstag anziehen durfte. Zwischen den Gräbern stolzierten unsere Nachbarn wie Teilnehmer einer Modenschau. Hier der neue Wollmantel, da die neuen Lederschuhe aus Italien. Man muss es doch nutzen, wenn das ganze Dorf zusammenkommt und man mal zeigen kann, was man hat. Und wenn es auf einem Friedhof ist.
Ich fürchte, dass Wettbewerb etwas zutiefst Menschliches ist. Vielen geht es im Leben nur darum, nach außen zu signalisieren, dass man gut zurechtkommt. Mit Autos, Häusern, Urlaubsfotos und Geschichten von ihrem Sohn Erich, der mit vier Jahren schon lesen kann. Der letzte Schauplatz dieses Wettbewerbs ist der Friedhof. Wer schaut wie häufig bei den Gräbern vorbei? Wer hat die aufwendigste Blumenbepflanzung? Und, ganz entscheidend: Wer hat den Größten? (Grabstein.) Es ist ein Wettbewerb zwischen den Angehörigen, nicht zwischen den Toten. Denn die werden ja auch von den Begonien auf ihrem Grab nicht wieder lebendig.
Der Friedhof in meinem Heimatdorf sah irgendwann nahezu lächerlich aus. Man konnte an den Grabsteinen schon aus der Ferne erkennen, in welcher Reihenfolge die Menschen gestorben waren. Die ältesten Grabsteine waren dezent und hüfthoch. Dann setzte jede Familie ein paar Zentimeter drauf, wenn einer ihrer Angehörigen starb. Man lässt sich doch nicht lumpen. Das schaukelte sich hoch, bis die Grabsteine eine Art Skyline bildeten.
Es gibt in Deutschland Friedhofsverordnungen, die die maximale Höhe der Grabsteine festlegen. Ich glaube, dass der erste Verfasser einer Friedhofsverordnung ein weiser Mann war, der den Charakter seiner Mitmenschen gut einschätzen konnte. Natürlich hatten alle Angehörige, die Wolkenkratzer-Grabsteine aufgestellt hatten, genau diese Friedhofsverordnung ignoriert. Als ihm die Grabsteine bis zur Schulter reichten, hatte unser Pfarrer genug: Alle Familien mit zu hohem Grabstein mussten diesen vom Steinmetz holen und kürzen lassen. Die meisten entschieden sich dazu, den Grabstein unten zu kappen, weil oben ja die Engelchen, Kreuze und Inschriften sind. Nach dem Wutanfall des Pfarrers waren im Tod wieder alle gleich.
Manche Angehörigen nutzen nicht nur prächtige Grabsteine, sondern auch eine besonders pflegeintensive Bepflanzung, um das Grab ihres Angehörigen schön zu gestalten. Aber egal, wie hübsch oder vermeintlich einfach es bepflanzt ist: Man sieht einem Grab nicht an, ob derjenige, der darin liegt, geliebt wurde. Ich habe Freundinnen, die die Trauer nach dem Tod ihres Mannes nahezu auffrisst. Einige haben Efeu auf das Grab gepflanzt und schauen nur alle paar Monate vorbei, andere setzen zu jeder Jahreszeit passende Blumen ein und kommen täglich. Ob man den Friedhof als Ort und Ritual der Trauer mag oder nicht, hat einfach keine Aussage, sondern ist eine sehr persönliche Angelegenheit. Manchen geht es aber um die Außenwirkung.
In meinem Heimatdorf gibt es einen Mann, der immer gehässig über seine Mutter geschimpft hat. Jetzt ist sie gestorben. Ihr Grab ist noch ganz frisch, der Grabstein steht noch nicht. Ich bin mir sicher, dass der Steinmetz gerade einen sündhaft teuren aus Marmor bearbeitet.