Wenn man über die aktuelle Popmusik nachdenkt, kommt man meist recht schnell bei folgender Grundfrage an: Wie ist es möglich, heute Musik zu machen, die originell, zeitgemäß und irgendwie neu ist? Lange lieferten technische Innovationen den Anstoß für neue Sounds und neue Popkonzepte. Auch kompositorisch wurde in den vergangenen Jahrzehnten viel ausprobiert, bis der Pop schließlich beim zugleich futuristischen und urtümlichen Pulsschlag von Techno und House angelangte.
Heute scheint diese Innovationsdynamik des Pop allerdings an einen Endpunkt gekommen zu sein. Zumindest ist niemand in Sicht, der eine neue Idee hat, die alles in den Schatten stellt. Vor allem im Rock wendet man sich deshalb der Retromusik zu und schrubbt munter die bewährten Akkorde runter. Aber das kann's ja wohl auch nicht sein. Hier im Blog habe ich mich immer wieder mit Musikern über die Frage unterhalten, was ein zeitgemäßer Pop-Ansatz wäre, und dabei kam oft die Antwort heraus, dass es heute darauf ankommt, auf intelligente und inspirierte Weise mit der Tradition umzugehen und Elemente aus der großartigen Musik, die es bereits gibt, auf originelle Weise zu verändern und neu zu kombinieren.
Ein leidenschaftlicher Unterstützer dieser Sichtweise trat vor kurzem an einem unerwarteten Ort in Erscheinung - beim Eurovision Song Contest in Düsseldorf. Mit seinem jazz-beeinflussten Titel »Madness Of Love« stach der Italiener Raphael Gualazzi aus dem Teilnehmerfeld heraus und holte überraschenderweise den zweiten Platz, vor allem dank vieler Punkte beim Jury-Vote. Es dürfte im genutzt haben, dass er überaus sympathisch rüberkam und in einem Feld voller Casting-Klone leicht als einer der wenigen Musiker zu erkennen war, der über eigene musikalische Ideen und ein echtes Anliegen verfügt. Seitdem freut er sich über steigende Verkaufszahlen seines Albums Reality And Fantasy (Sugar/Universal), im Herbst wird er für Konzerte nach Deutschland kommen. Gualazzis Erfolg ist umso bemerkenswerter, als er sich auf einen inzwischen eher obskuren Musikstil bezieht, das Stride Piano. Vor kurzem hatte ich Gelegenheit, mit Raphael Gualazzi zu reden.
Raphael Gualazzi, Sie haben neulich beim Eurovision Song Contest den zweiten Platz geholt. Mit Ihrem Jazzsong »Madness Of Love« wirkten Sie zwischen den ganzen Popacts allerdings ziemlich deplatziert. Wie haben Sie Ihren Auftritt dort empfunden?
Ich habe mir die anderen Songs alle angehört, denn man braucht immer musikalischen Input; gerade der Jazz muss sich von moderner Musik inspirieren lassen. Mit einigen der anderen Teilnehmer habe ich sogar zusammengespielt, zum Beispiel mit den Holländern 3Js und mit Blue aus England. Insgesamt war es für mich ein großes Vergnügen, in dieser fantastischen Halle in Düsseldorf aufzutreten.
Haben Sie während der Auszählung mal gedacht, oh Gott, vielleicht gewinne ich hier?!
Nein. Nach dem Auftritt vor 150 Millionen Fernsehzuschauern war ich einfach total glücklich und habe ein Glas Wein getrunken. Die Leute haben gesagt, trink lieber Wasser, aber das wollte ich mir nicht nehmen lassen.
Stimmt es eigentlich, dass Sie den Eurovision Song Contest bis vor kurzem gar nicht kannten?
Ja, das stimmt. Italien hat 1997 zum letzten Mal teilgenommen, da war ich fünfzehn und saß die ganze Zeit am Klavier. Außerdem habe ich erst seit drei Jahren einen Fernseher.
Seit wann spielen Sie Klavier?
Mit neun habe ich gelernt, wie man Noten liest und die Finger bewegt. Aber dann habe ich aufgehört und lieber Basketball gespielt, bis ich mir den Finger gebrochen habe. Mit 14 habe ich dann wieder mit Klavier angefangen und bald darauf die Prüfung fürs Konservatorium in Pesaro geschafft. Dort habe ich klassische Musik studiert, aber nebenher in etlichen Bands Jazzstandards gespielt, oder Rocksongs von Gruppen wie Deep Purple, Led Zeppelin und Queen. Ich habe mich schon immer für unterschiedliche Musikstile interessiert, und für deren Tradition.
»Jazz war früher sehr populär und sehr nah dran am Leben der Menschen. Das würde ich auch gerne schaffen«
Haben Sie damals auch schon eigene Songs geschrieben?
Das begann, als ich 19 war. Da habe ich mich in die Blues-Tradition vertieft, in die Musik von Leuten wie Roosevelt Sykes, Champion Jack Dupree und Robert Johnson. Ich habe deren Ideen mit dem gemischt, was ich auf dem Konservatorium gelernt hatte, so sind meine meine ersten Songs entstanden. Dabei habe ich festgestellt, dass das, was ich mache, dem Stride Piano ziemlich ähnlich ist.
Diesen Begriff müssen Sie genauer erklären!
Stride war ein Jazzpiano-Stil, den es ungefähr von 1910 bis 1940 gab und der gespielt wurde von Künstlern wie Thomas »Fats« Waller, Art Tatum, Mary Lou Williams, James P. Johnson und Willie »The Lion« Smith. Auch Count Basie und Duke Ellington haben mal damit angefangen.
Wie hörte sich diese Musik an?
Mit dem Stride Piano hat die afro-amerikanische Kultur die europäische Tradition aufgenommen. Jelly Roll Morton hat gesagt, das Merkmal des Stride Piano sei die »Spanish Tinge«, das ist ein bestimmter Latin-Rhythmus. Einen sehr ähnlichen Rhythmus hört man in Stücken von Bizet, der in Kuba war. Aber ich hatte nie das Ziel, diese Musik philologisch zu erforschen, ich möchte sie für meine eigene Musik nutzen.
Wie hat man sich das genau vorzustellen?
Ich habe zum Beispiel das Stück »Smashing Thirds« von Thomas »Fats« Waller neu interpretiert und mit einem Stück von mir und dem Refrain von Jelly Roll Mortons »Mamanita« kombiniert. Mein Ziel ist immer, mit der Tradition zu kommunizieren. Die Jazztradition ist der Ursprung der gesamten modernen Musik, und ich denke, sie kann erneuert werden, wenn sie mit neuen Sounds gemischt wird, mit Rock, Soul und Pop.
Viele Stride-Pianisten waren atemberaubende Virtuosen.
Daran sieht man, wie wichtig es ist, die Tradition zu kennen. Art Tatum hat Dvorak und Beethoven gespielt, bevor er zum Jazz kam.
Jazz hatte früher eine ganz andere Rolle als heute. Interessieren Sie sich auch für solche sozialen Zusammenhänge?
Jazz entstand in Bordellen und bei rent parties, wo Leute ihre Wohnung leer räumten und eine Party veranstalteten, um die Miete bezahlen. Der Song »The Joint Is Jumpin'« von Thomas »Fats« Waller ist wie eine Momentaufnahme dieser historischen Situation, da heißt es: »This joint is jumpin' / It's really jumpin' / Come in cats an' check your hats / I mean this joint is jumpin' / The piano's thumpin' / The dancers bumpin'«. Jazz war früher sehr populär und sehr nah dran am Leben der Menschen. Das würde ich auch gerne schaffen.
Heute halten viele Jazz hingegen für komplizierte, akademische Musik.
Ende der Vierziger, Anfang der Fünfziger hat sich die musikalische Sprache des Jazz rasant weiterentwickelt – vielleicht zu schnell, damit die Leute das noch verstehen konnten. Damals wurde der Jazz in der Tat etwas intellektuell. Aber ich denke, dass es auch heute noch möglich ist, mit Jazz die Menschen zu erreichen.
Worin besteht denn das italienische Element in Ihrer Musik?
In unserer Tradition dreht es sich vor allem um den Gesang. Ich habe versucht, meine Idee des Stride Pianos mit der italienischen Gesangstradition zu verbinden, für deren herausragende Vertreter ich Andrea Bocelli, Giorgio und den großen Maestro Paolo Conte halte.
Üben Sie heute immer noch so viel wie als Jugendlicher?
Auf Tour habe ich immer ein elektrisches Piano dabei, das ich im Hotelzimmer aufstellen kann. Darauf spiele ich, wenn ich vom Soundcheck zurückkomme. Wenn ich mal einen Tag freihabe, übe ich mehr. Aber manchmal ist es auch gut, sich einfach nur auszuruhen.
Warum ist Jazz immer noch cool?
Weil Jazz für Freiheit steht. Es ist intensive Musik, die sich ständig verändert. Jazz ist wie das Leben, wie das Licht, wie das Blut, das durch unsere Adern fließt.