Hallo Frau Cash, ich rufe aus München an, wo Sie 1978 ihr Debütalbum aufgenommen haben. Was fällt Ihnen als erstes ein, wenn Sie an diese Zeit zurückdenken?
Der Englische Garten!
Wirklich?! Wie schön!
Ich war damals bei meiner Freundin Renate Damm zu Gast. Sie wohnte in der Nähe des Englischen Gartens und wir sind dort spazieren gegangen. Es war Winter, um Weihnachten herum, und ich fand München wunderschön. München ist auch der erste Ort, an dem ich im Studio war. Das war aufregend – und ein bisschen unheimlich.
Wie kam es dazu, dass Ihre Karriere ausgerechnet in München begann?
Ich war damals auf der Lee-Strasberg-Schauspielschule in Los Angeles, und ich war dort nicht wirklich glücklich. Renate hat mich gefragt, ob ich sie über Weihnachten besuchen wollte. Ich bin also nach München geflogen. Renate hat für Ariola gearbeitet und mich zu einer Party mitgenommen, bei der auch einige Manager dieser Plattenfirma waren. Renate hat Werbung für mich gemacht, von meinen Songs geschwärmt. Die Manager wollten darauf meine Songs hören. Ich habe ein Demo geschickt und bin dann relativ schnell unter Vertrag genommen worden.
Klingt verblüffend simpel.
Es war ein Wendepunkt in meinem Leben. Ich musste mich entscheiden, ob ich zurück zur Schauspielschule will oder Musikerin werden möchte. Ich wollte gerne Songwriterin werden, aber ich wollte nicht unbedingt selbst auftreten und Platten machen.
Auch für Ihren Vater war ein Aufenthalt in Bayern der große musikalische Wendepunkt. Er hat mit dem Gitarrespielen und Komponieren angefangen, als er Anfang der Fünfziger als US-Soldat in Landsberg stationiert war. War Ihnen das damals bewusst?
Wissen Sie, als 22 Jahre altes Mädchen habe ich an so etwas nicht gedacht. Ich war bis heute nie in der Kaserne in Landsberg. Wie weit ist es von München?
Nicht weit. Ungefähr 50 km.
So nah?! Vielleicht schaffe ich es ja irgendwann noch einmal, da hinzufahren.
»Wenn ich mich damit beschäftigen würde, was die Leute über mich und meine Familie denken, könnte ich gleich einpacken«
Nervt es Sie eigentlich, zu ihrem Vater befragt zu werden?
Das wird wohl niemals enden. Werden die Leute je aufhören, Liza Minelli nach Judy Garland zu befragen? Bestimmt nicht! Als ich jünger war, hat mich das gestört, jetzt nicht mehr. Ich bin erwachsen, ich kann nachvollziehen, dass sich die Leute für meinen Vater interessieren.
Er taucht auch in Ihrem eigenen Werk auf, zum Beispiel in dem Song »I Was Watching You« von Ihrem letzten Album Black Cadillac. Man soll ja nicht alles autobiografisch interpretieren, aber dieses Lied handelt schon von Johnny Cash, oder?
Es handelt von meinen beiden Eltern, Mutter und Vater. Ich schaue auf sie herab, bevor sie geheiratet haben. Im zweiten Vers geht es um den Ort, an dem wir gewohnt haben, als ich klein war. Der dritte spielt, nachdem sie gestorben sind. Die Leute haben meinen Vater mehr im Blick, weil er berühmt ist, aber ich habe nicht nur ihn, sondern auch meine Mutter und meine Stiefmutter innerhalb kurzer Zeit verloren. Der Song handelt von diesem Verlust; als ich ihn geschrieben habe, war meine Trauer noch sehr lebendig. Aber ich habe auch anhaltende Liebe empfunden. Das ist auf gewisse Weise die tiefere Bedeutung des Songs: dass die Liebe vor der Geburt beginnt und nach dem Tod anhält, als einziges Kontinuum. Ich denke übrigens, dass man den Song genauso gut versteht, wenn man nichts über meine Eltern weiß. Jeder glaubt, ihre Geschichte zu geben. Deshalb lesen manche zu viel in diese Lieder hinein.
Haben Sie manchmal das Gefühl, Ihre Lebensgeschichte zurückerobern zu müssen? Schließlich war Ihre Kindheit Thema des erfolgreichen Hollywood-Films Walk The Line.
Ganz ehrlich: Das ist mir egal. Wenn ich mich damit beschäftigen würde, was die Leute über mich und meine Familie denken, könnte ich gleich einpacken. Ich habe folgendes gelernt: Die Menschen haben ihre eigene Interpretation von den Dingen, ganz egal, was man selbst sagt oder tut. Ich denke, man muss ihnen erlauben, ihr eigenes Leben im Leben von Stars wie meinem Vater zu spiegeln. Dennoch wollte ich mir den Film eigentlich nicht angucken, denn er handelt von den schmerzhaftesten Ereignissen meiner Kindheit: der Drogensucht meines Vaters und der Scheidung meiner Eltern. Keiner will seine Kindheit auf der Leinwand sehen! Ich habe den Film dann doch angeschaut und fand ihn holzschnittartig. Ein typischer Hollywood-Film.
Sie haben in den Achtzigern mehrere erfolgreiche Country-Platten veröffentlicht, sind dann aber 1991 von Nashville nach New York gezogen. Sind Sie vor dem Country-Establishment geflüchtet?
Das war ein Teil davon. Ich hatte das Gefühl, in Nashville keine Luft mehr zu kriegen. Ich habe damals die Platte Interiors gemacht, eine akustische Folkplatte, nur auf ein paar Stücken waren überhaupt Schlagzeug zu hören. Ich hatte das Gefühl, mit dieser Platte besonders nah an der Essenz der Countrymusik zu sein. Zu der Zeit hat sich die Countrymusik aber ganz anders entwickelt, alles ging in Richtung Pop. Meine Platte war das genaue Gegenteil von dem, was am Markt gefragt war, und meine Firma wollte sie nicht. Ich war am Boden zerstört. Ich habe drei Monate nachgedacht, dann habe ich zu meinem Label gesagt: Ihr müsst mich gehen lassen. Zur selben Zeit ging meine Ehe kaputt. Das hat alles dazu beigetragen, dass ich nach New York gezogen bin.
Die Countrymusik, die aus Nashville kommt, ist weiterhin sehr poppig, dafür gibt es jetzt das neue Genre Americana, in dem alle Arten von Roots-Musik versammelt werden. Fühlen Sie sich dort besser aufgehoben?
Black Cadillac war das Top-Americana-Album des Jahres 2006, also scheint das der richtige Platz für mich zu sein. Americana gilt ja als Musikgenre, das eine stärkere Verbindung zur Folk-Tradition hat. Ich habe definitiv mehr mit Steve Earle gemeinsam als mit Garth Brooks.
Ihr Vater war tief in der Musiktradition des amerikanischen Südens verwurzelt, im Blues, im Gospel, in der alten Countrymusik. Haben Sie deshalb eine lebenslange Verbindung zu dieser Musik?
Einerseits ja. Andererseits habe ich auch manchmal versucht, mich davon zu entfernen. Mein Album Rhythm & Romance von 1985 war eine Popplatte und es war gut, das auszuprobieren. Die alte Musik – sie ist keine Religion.
Ich freue mich, dass Sie eine Kollegin von mir sind! Ich habe gesehen, dass Sie eine Kolumne für die New York Times schreiben.
Ja, gelegentlich. Ich habe auch eine Menge Essays für andere Zeitungen und Zeitschriften verfasst. Gerade arbeite ich an meinen Memoiren – ich bin schon fast fertig.
In einer Ihrer Kolumnen habe ich folgenden Satz gefunden: »In many great songs a larger, universal modicum of truth is revealed and resonates on a personal level with the listener, even when the facts make no sense at all.« Können Sie das genauer erklären?
Die Wahrheit erzeugt einen Nachhall im Körper, im Herz und im Verstand. Die Fakten erzeugen keinen solchen Nachhall, nur die Wahrheit. Ich habe leider vergessen, von wem dieser Satz stammt: »Die Kunst ist die Lüge, die uns zur Wahrheit führt.« Aber ich habe selbst schon erfahren, dass dieser Satz richtig ist, zum Beispiel wenn ich vor einem großartigen Gemälde stand. Man kann nicht genau sagen, wo es herkommt, aber man merkt, dass die Wahrheit zu einem spricht und dass man wieder in Kontakt mit seinem tieferen Selbst tritt.
Persönlich finde ich diese Wahrheit oft in den alten Songs, im Folk, Country und Blues.
Geht mir genauso.
Woran liegt das?
Vielleicht daran, dass wir beide schon alt sind? Wenn wir Teenager wären würden wir die Wahrheit wohl eher bei Kanye West entdecken.
Konzerte:
2. März: Muffathalle, München
3. März: Kulturkirche, Köln
5. März: Passionskirche, Berlin