Viel mehr als blaue Overalls

Die interessanteste Mode der WM findet man abseits der Stadien: Die Wanderarbeiter und Einwanderer von Katar inszenieren sich an ihrem einzigen freien Tag – auch »Doha Fashion Friday« genannt – farbenfroh. Eine Stilkritik.

Unsere Stilkolumnistin empfiehlt, den Blick vom Spielfeld zu nehmen und sich stattdessen die Instagramseite »DohaFashionFridays« anzuschauen.

Fotos: Instagram

Modisch ist bei dieser umstrittenen WM bislang nicht viel zu holen. Ein paar neue Strähnchen hier, ein paar Trainer in Cargohosen dort. Das einzig erstaunliche Styling entstand lange vor dem Anstoß: Ronaldo und Messi beim Schachspielen in der viral gegangenen Kampagne von Louis Vuitton. Wahrscheinlich das tollkühnste Casting des Jahres, weil man sich nicht wirklich sicher ist, ob die beiden sich auf diesem Spielfeld auch nur halbwegs auskennen. Dann wäre da noch das neue WM-Accessoire: Die traditionelle Kopfbedeckung am Persischen Golf, genannt »Ghutra«, mit der »Agal«, der Kordel, die sie auf dem Kopf befestigt. Beides wird nun für Fans in allen Landesfarben angeboten und, den Fernsehbildern nach zu urteilen, auch gekauft. 

Was sich derweil wirklich lohnt, ist ein Blick auf den Instagram-Account »Doha Fashion Fridays«, den die GQ Middle East gefunden hat. Zu sehen sind dort Wanderarbeiter aus Nepal, Bangladesch, Äthiopien oder Ghana, von denen im Vorfeld dieser WM so häufig die Rede war – aber in ganz anderer Form: nicht in ihren hellblauen Overalls, die sie als Billiglohn-Arbeitskräfte kennzeichnen, nicht am Stadion, wo sie, wenn irgendeine Fernsehkamera läuft, schnell aus der prallen Sonne gescheucht werden. Sondern wie sie freitags auf der Corniche flanieren und posieren. Die lange Strandpromenade der katarischen Hauptstadt wird an dem heiligen Tag der Muslime und ihrem freien Tag (meist dem einzigen der ganzen Woche) ihr Laufsteg, auf dem sie zeigen, dass sie mehr sind als nur irgendeine Zahl in den Statistiken.

Da ist etwa Ngolosyo aus Nepal, der mit Handtaschen, Flickenjeans und Sneakern für die Kamera posiert. Der 21-Jährige arbeitet als Bauarbeiter in Doha, auf Instagram liest man außerdem über ihn: bei welchem Barbershop im Industriegebiet er sich die Haare schneiden lässt – »dort kennen sie meinen Style« – und dass K-Pop seine große Leidenschaft ist und er viele Youtube-Videos dieser Stars schaut, leider hätten sie aber kein kostenloses Wifi im Camp. Sujal, 39, ist ebenfalls aus Nepal, arbeitet seit vier Jahren als Koch in Doha und wohnt mit fünf anderen Köchen zusammen. Er zeigt stolz sein Rad und erzählt, dass er tatsächlich Tickets für die WM ergattert hat. Oder die Mitbewohner Saiful und Shafin aus Bangladesch, mit Philipp-Plein-Shirt und bunten Sneakern. Sie arbeiten als Techniker auf dem Bau und erzählen, dass sie ihre Kleidung freitags bei Almira in Farij Abdalziz kaufen.

Angefangen mit dem Account hat der katarische Cartoonist Khalid Albaih, dem auffiel, wie sehr sich das Straßenbild von Doha Anfang der Nullerjahre zu verändern begann. Eine ganze Gruppe von Einwanderern sei gekommen – die allerdings nur freitags wirklich in Erscheinung traten. Er habe das Gefühl gehabt, sie wollten dann erst recht zeigen, dass sie mehr sind als ihr blauer Overall, sagte er im Interview mit der GQ. »Ich dachte, in einem Land, das die Mode liebt – was könnte die Menschen besser zusammenbringen als die Mode?«

Frauen sind ebenfalls bei »Doha Fashion Fridays«, wenn auch etwas unterrepräsentiert, zum Beispiel die beiden Kenianerinnen Teresa und Sherryl. Sie kamen vor neun Jahren in die Stadt, um für eine Reinigungsfirma zu arbeiten, und posieren in engen weißen Jeans zu kräftigen Farben. Oder Sarah aus Uganda, die viel Schmuck, einen kanariengelben Jumpsuit mit passender gelber Handtasche und einen breiten roten Gürtel trägt. Welches ihre Lieblingsfarbe sei? »Gelb natürlich! Was dachtet ihr denn?«

Warum das Narrativ, das entsteht, so wichtig ist? Oberflächlich natürlich, und doch zeigen die Momentaufnahmen, dass diese Menschen trotz allem auch noch ein Leben führen und offensichtlich eben: Spaß an Mode haben. Sie wollen sich präsentieren und inszenieren, so wie andere junge Frauen und Männer überall auf der Welt. Nicht zuletzt als Ausgleich für ihren oft sehr harten Arbeitsalltag, der teilweise um vier oder fünf Uhr morgens beginnt, fernab von ihren Familien, die sie nicht zu sich holen dürfen.

Der Cartoonist Khalid Albaih und befreundete Fotografen sprechen die Leute bis heute mit dem Satz »Salam, I love what you are wearing!« an und versehen jeden Instagram-Post mit einer langen Beschreibung. Denn sie wissen ja, hinter jedem Namen verbirgt sich eine Geschichte. Immer wieder freitags wird sie sichtbar.

Die Opfer der Weltmeisterschaft

In wenigen Wochen ­beginnt die Fußball-WM der Männer in Katar. Die Infrastruktur haben ­Arbeiter aus dem Ausland gebaut - viele von ihnen sind dabei gestorben. Wir haben Familien der Toten besucht, die den wahren Preis des Fußballfests zahlen.

Passender Song: »Friday I’m In Love«
Typischer Instagram-Kommentar: Strike a pose
Das sagt der WM-Ordner: keine Regenbogenfarben, bitte