Gut möglich, dass Tim Wiese zum ersten Mal vor Gericht stand. Der Ex-Torhüter klagt gegen seinen früheren Verein Werder Bremen, weil der ihm Stadionverbot erteilt hat. Er soll auf der VIP-Tribüne mit rassistischen Äußerungen gegenüber dem Servicepersonal aufgefallen sein. Wiese bestreitet das, dummerweise gibt es jede Menge Fotos von ihm mit Personen aus rechtsextremen Kreisen. Also geht es vor Gericht: Erster Prozesstag am Montag am Landgericht Bremen.
Auftritt Tim Wiese: Der 41-Jährige trägt eine extravagante braune Lederjacke in Kroko-Optik, darunter ein graues Seidenhemd, kaputte Jeans, Turnschuhe mit spitzen Nieten auf der Kappe, zurückgegelte Haare. In Philipp-Plein-geneigten Kreisen kommt das sicher gut an. Für konservativere Beobachter muss das Outfit wie ein ausgestreckter Mittelfinger wirken. Hat der Mann denn noch nie etwas von »Courtroom Dressing« gehört? Das ist quasi das modische Pendant zu »Ball flach halten.« Möglichst wenig Aufsehen erregen, Souveränität ausstrahlen, farblich Buße tun. Also genau das, was Wiese offensichtlich nicht macht. Für Prozess-Neulinge gilt das selbe wie immer im modischen Zweifelsfall: Man könnte jemanden fragen, der sich auskennt (seinen Anwalt, Kollegen wie Jérôme Boateng), oder im Notfall einfach googlen.
Im Netz empfehlen diverse Kanzleien und Stilratgeber einen blauen oder grauen Anzug für den Gerichtssaal, nur Hemd statt Jackett gehe –je nach Jahreszeit – auch, Turnschuhe seien prinzipiell erlaubt. Eine Rechtsreferendarin schreibt allerdings, dass der Richter seine Entscheidung natürlich objektiv und unabhängig von inoffiziellen Dresscodes treffe. »Grundsätzlich sollten Sie daher anziehen, worin Sie sich wohl fühlen.« Diese Juristen. Natürlich hat sie recht – aber muss man dabei so weit gehen wie Tim Wiese?
Es hätte jede Menge Anschauungsmaterial von anderen Prominenten vor Gericht gegeben. Ungefähr zur gleichen Zeit trug zum Beispiel Shakira bei ihrem Steuerprozess in Barcelona einen hellrosa Anzug. Mit hellrosa Bluse, hellrosa Schuhen, hellrosa Sonnenbrille und hellrosa Handtasche. So geht die reine Unschuld vom Lande. Mit blassen Farben, die kein Wässerchen trüben.
Allerdings war die Sängerin ja auch Angeklagte und nicht Klägerin. Dann eben Gwyneth Paltrow, die Anfang des Jahres gegen eine Schadenersatzforderung nach einem Skiunfall klagte. Sie trug praktisch über den gesamten Prozess nur neutrale Farben, betont hochwertige Materialien und strahlte einerseits maximalen Ennui aus, aber eben auch unantastbare Überlegenheit aus. Überflüssig zu erwähnen, wer gewann.
Selbst Rihanna trug damals 2009, als sie ihren Ex-Freund Chris Brown vor Gericht wegen Körperverletzung anklagte, ein biederes schwarzes Kleid mit Perlenkette. Paris Hilton oder Winona Ryder wählten spießige Bubi-Krägen, Linda Evangelista erschien mal im grauen Businesskostüm vor Gericht und Jérome Boateng trug bekanntlich dunklen Anzug im Gerichtssaal – mit Krawatte.
Aber zurück zu Tim Wiese, der die vergangenen Jahre ja ohnehin eine interessante Verwandlung durchgemacht hat. Fürs Protokoll: Er war mal Spitzen-Torwart, dünn wie ein »Lauch« und »absoluter Publikumsliebling« (O-Ton Wiese), wollte nach seinem Karriereende aber plötzlich Wrestling-Kampfmaschine sein, ließ die Haare wachsen und trainierte sich einen ordentlichen Stiernacken an. Vielleicht daher die Lederjacke mit dem Stehkragen? Oder glaubt er weiterhin an »Angriff ist die beste Verteidigung?« Vielleicht findet es Wiese aber auch einfach zu durchsichtig, jetzt wieder auf brav und adrett zu machen und ins Buttondownhemd zu schlüpfen. Sicher hat ihm mal irgendwer erklärt, heutzutage müsse man vor allem »authentisch« rüberkommen. Hauptsache wohlfühlen eben.
Das Kuriose an dem Fall: Nach dem ersten Prozesstag gab es noch keine Entscheidung, weitere Zeugen werden wohl erst im neuen Jahr gehört – und dann wäre das Stadionverbot bis Ende des Jahres theoretisch schon wieder aufgehoben.
Erwartbarer Instagram-Kommentar: »Typisch Wiese – wieder daneben gegriffen«
Das sagt der Werder-Fan: »Warum hat er nicht einfach ein Bremen-Trikot angezogen?«
Passender Film: »Eine Frage der Ehre«