»Der Song war meine Hoffnung, es eines Tages der Welt zu zeigen«

Der Spitzenkoch Tim Raue erzählt, warum er in der Küche lieber keine Musik hört, welche Lieder ihn an seine Jugend erinnern – und mit welchen er in neue Lebensabschnitte tanzt.


    #1 »Happy« von Pharrell Williams

    Ich mag eigentlich keine Musik. Ich finde sie meist störend. Bei der Arbeit in der Küche lenkt sie ab. Am liebsten habe ich Stille, denn dann fließen die Gedanken, ich kann ihnen zuhören.
    Und doch mag ich Musik irgendwie, wenn ich frei habe. Ich mag es zu tanzen, was naturgemäß ohne Musik nicht wirklich funktioniert. Im Flugzeug höre ich auch sehr gerne Songs, weil ich das Fiepen und Brummen in der Kabine noch weniger mag als Musik. Und dann war es doch gar nicht so schwer sieben völlig unterschiedliche Songs für diese Kolumne zu finden.
    Wenn ich also realistisch reflektiere, mag ich Musik doch. Ein bisschen. Manchmal.
    Eigentlich höre ich auch kein Radio. Manchmal passiert es aber, dass ich beim Taxi fahren die Charts mitbekomme und ganz selten begeistert mich dann ein Lied. Der hochindividuelle und von mir sehr geschätze Pharrell Williams hat diesen wunderbaren Gute-Laune-Song kreiert und dazu noch ein lebensbejahendes Musikvideo gedreht. Mich hat das so sehr motiviert, dass ich zu dem Lied in einen neuen Lebensabschnitt getanzt bin.


    #2 »Hit The Freeway« von Toni Braxton feat. Loon

    In meiner Jugend hörte ich vor allem tanzbare R'n'B-Nummern. Toni Braxton mochte ich besonders gerne.
    Damals war ich alles andere als ein Partytiger. Ich bin selten ausgegangen, und wenn habe ich zwei bis drei Stunden durchgetanzt und bin dann wieder nach Hause gegangen. Das Kochen und die langen Arbeitszeiten haben ihren Tribut gefordert.
    Toni Braxton habe ich zufällig mal umgerannt, im Eingangsbereich des Käfer-Restaurants in München am Abend des Eröffnungsspiels der Fußball-Weltmeisterschaft. Sie war so klein und zierlich, dass ich sie nicht gesehen habe und die Situation war so schnell vorbei, dass ich mich nicht entschuldigen konnte. Von daher an dieser Stelle, liebe Toni: Sorry, sorry, sorry!


    #3 »Der beste Tag meines Lebens« von Kool Savas feat. Valezka

    Menschen, die früh im Leben wissen, wozu sie bestimmt sind, bewundere ich sehr. Ich hatte selber überhaupt keine Ahnung, was mal aus mir werden sollte.
    In meiner Nachbarklasse gab es einen Jungen, der eine scheppe Brille trug und, wie ich, irgendwann mal einen Teil seines Vorderzahns verloren hatte. Unsere Mitschüler fanden, wir sahen uns ähnlich. Ich mochte ihn sehr gerne. Wir waren nach der Schule zusammen in einem Projekt für schwierige Jugendliche untergebracht und wurden dort Freunde.
    Savas verbrachte schon damals in der 8. Klasse nahezu jede Sekunde damit, Texte zu schreiben und zu rappen, er lebte Musik. Ich habe seine Entwicklung nie aus den Augen verloren und erkenne seine Stimme sofort und auch, wenn ich bei keinem seiner Songs mitsingen kann, muss ich jedes Mal an uns beide denken, wie wir als Teenager waren. Anders, besonders, und wir sind beide in unserem Genre sehr erfolgreich geworden.

    #4 »One« von Swedish House Mafia
    House-Musik bewegt mich, vor allem, wenn sie um Vocals bereichert ist. Sie zaubert mir ein Lächeln aufs Gesicht, es kommt direkt Party-Stimmung auf und ich fühle Sonnenstrahlen auf meiner Haut.
    Die Swedish House Mafia ist meine absolute Lieblingsband und ihr letztes Live-Album »One Last Tour: A Live Soundtrack« habe ich so oft gehört wie nichts anderes. »One« ist dabei der Song, der mich besonders durchdringt. Es ist der Beat, der mich mitreißt, bei dem ich laut schreie und mehr springe als tanze. I love it!

    #5 »Stunde des Siegers« von Böhse Onkelz
    In meiner Jugend lebte ich mehrere Jahre in einer Kleinstadt bei Frankfurt am Main und hatte Freunde, die deutlich älter waren als ich. Es war eine Zeit, in der eindeutig zu viel Alkohol getrunken wurde und körperliche Auseinandersetzungen zum Alltag gehörten. Die Musik, die wir hörten, war laut, aggressiv und deutschsprachig.
    Die einzige Band, die ich auf Anhieb mochte, waren die Böhsen Onkelz. Es gibt einige Lieder, die ich auch heute noch mitsingen kann. Es sind diejenigen, die vom Aufstieg aus der Gosse handeln.
    Nicht jeder ist in der Lage, seine Gefühle adäquat verbal auszudrücken. Die Stimme, die ich mir als Elf- bis 14-Jähriger aussuchte, sang Lieder wie »Erinnerungen«. Ein Stück, das für mich heute aktueller ist als damals. Der Song »Stunde des Siegers« war mein Traum, meine Hoffung, es eines Tages der Welt zu zeigen. Kein Verlierer mehr zu sein, kein Ausgestoßener, sondern ein Gewinner, jemand, der etwas erreicht hat. Heute weiß ich, dass gerade im Moment des Sieges nichts wichtiger ist als Demut und Respekt und Anerkennung für den Zweitplatzierten, beziehungsweise für den Verlierer.

    #6 »Chöre« von Mark Forster
    Mark habe ich letztes Jahr kennengelernt, ein großartiger Typ. Wir haben zusammen fetten Rotwein getrunken und er hat mir in kurzer Zeit einen Einblick in seine musikalische Welt gegeben. Als Kreativer lebt man meist sehr isoliert in seinem Universum. Dabei ist es unglaublich bereichernd, sich mit ähnlich veranlagten Menschen aus anderen künstlerisch-kreativen Bereichen auszutauschen.
    »Chöre« ist ein Song, der für einen so selbstkritschen Menschen wie mich gemacht ist. Ich muss lernen, Lob und Komplimente anzunehmen und auch mal mit dem zufrieden zu sein, was wir geleistet haben. Das fällt mir enorm schwer.

    #7 »Etudes tableaux Op. 33 N° 2, 1« von Rachmaninow, gespielt von Hélène Grimaud
    Mein bester Freund Till Janczukowicz ist in der klassischen Musik tätig. Wir sind zwar schon seit 18 Jahren befreundet, aber es hat ewig lange gedauert, bis ich mich der Klassik genähert habe. In all den Jahren hat er unzählige Anläufe genommen, um mich zu begeistern. Wir waren bei Konzerten, ich habe große Dirigenten und Pianisten kennengelernt, aber Klick gemacht hat es erst vor einigen Jahren.
    Meinen beruflichen Durchbruch verdanke ich Ulf Poschardt. Der damalige Chefredakteuer des deutschen Vanity Fair-Magazins, in dem ich eine Kolumne hatte, veranstaltete einmal im Bode-Museum in Berlin ein privates Konzert von Hélène Grimaud. Wir saßen auf Pouffs und sie spielte. Emotionen und Gefühle, wie ich sie bis dato im Zusammenhang mit klassischer Musik nicht kannte, überwältigten mich.
    Beim Zusammenstellen dieser Liste sprach ich mit Till darüber. Bei einer Flasche 2004 Echezeaux von der Domaine de la Romanée Conti hörten wir Horowitz und Rubinstein und ich konnte mich vollkommen auf deren Spiel einlassen. Hélène Grimaud hat nicht deren Ernsthaftigkeit und Brillianz, aber sie handelt mit unglaublich viel Gefühl und Hingabe. Das ist mir persönlich sehr nahe.

    Foto: Jörg Carstensen/dpa