Kaum hat Kofi Annan seine Geschäfte bei den Vereinten Nationen an diesen nichtssagenden Koreaner abgetreten, vermissen wir schon seine majestätische Erscheinung: diesen geraden Rücken, diese freundlichen, stets ein wenig traurigen Augen, dieses dunkle, ernste, wunderbar von eisgrauem Haar umrahmte Gesicht. Der Singsang seiner Stimme war ein Schlaflied für unsere politischen Ängste – das beste Beruhigungsmittel, das die Weltpolitik zu bieten hatte. Warum aber haben wir diese Figur, völlig losgelöst von ihren tatsächlichen Erfolgen und Misserfolgen als UN-Generalsekretär, immer mit so großem innerem Wohlgefühl betrachtet? Es scheint da einen merkwürdigen Effekt bei älteren schwarzen Männern zu geben, die uns in Autoritätspositionen gegenübertreten. Man hat ihn bei Colin Powell gespürt, erst als Generalstabschef der US-Truppen, später als Außenminister. Man spürt ihn bis heute bei Nelson Mandela. Und man spürt ihn, wenn in Hollywood distinguierte schwarze Schauspieler Präsidenten, Richter und Detektive spielen – wie Morgan Freeman, der eigentlich seit Jahren nichts anderes macht. Man könnte es den Kofi-Effekt nennen.
Es fühlt sich richtig an, diese weisen Männer in diesen ernsten Rollen zu sehen: fortschrittlich, antirassistisch, zutiefst korrekt. Der Ursprung dieses Gefühls aber ist unreflektiert – und wenn man anfängt, es genauer zu hinterfragen, stößt man sofort auf das mediale Gegenbild des ernsten jungen Schwarzen. Sosehr Kofi Annan beruhigt, so sehr verstört, sagen wir, Malcolm X. Der junge Medienschwarze von heute ist Gangmitglied. Gangsta-Rapper. Warlord. Und nur im besten Fall Politaktivist mit Intellektuellenbrille, vor dessen scharfer Intelligenz wir aber auch keine Gnade erwarten können. Er wird bald sterben, weil er entweder von seinen Brüdern umgebracht wird oder von Killern des weißen Establishments. Punkt eins: Dem weisen schwarzen Mann vertrauen wir schon einfach deshalb, weil er in unserer Vorstellung ein Überlebender ist. Bereits sein Alter weist ihn als Vernunftmenschen und Pazifisten aus, sonst hätte es ihn längst erwischt. Punkt zwei: Das Alter relativiert die imaginierte revolutionäre und sexuelle Energie, die beim jungen Schwarzen noch so furchteinflößend wirkt. Morgan Freeman war 52, als er endlich zum Star wurde, Kofi Annan wurde mit 58 Jahren Generalsekretär, und Nelson Mandela musste sogar bis zum Alter von 72 warten, bevor das Apartheid-Regime ihn aus dem Gefängnis entließ.
So hat der heimelige Kofi-Effekt eine ziemlich ungute, um nicht zu sagen rassistische Komponente. Er geht zurück bis auf jene literarische, politisch aber dennoch sehr wirkmächtige Figur, die vor langer Zeit ein Urbild des weisen schwarzen Mannes etablierte: Onkel Tom. Mit übermenschlicher Duldsamkeit und Schicksalsergebenheit fügte sich dieser Sklave in die schlimmen Verhältnisse, wie sie nun einmal waren. Und jetzt mal ehrlich: Erwarten wir, wie unausgesprochen und unbewusst auch immer, nicht dasselbe von unseren heutigen Kofi-Annan-Figuren? Der schwarze Richter, diese Standardfigur im Hollywood-Film, der mit tiefem Bass sein Urteil verkündet, soll Lebenserfahrung und Gerechtigkeit verkörpern. Zugleich aber vollstreckt er Gesetze, auf die er keinen Einfluss hat, und verleiht einem Justizsystem seine Würde, das vielleicht weder Würde noch Gerechtigkeit kennt. Ganz ähnlich hat auch die Rolle von Kofi Annan funktioniert – die Belege dafür finden sich in seiner Laufbahn. So war er, bevor er zu höchsten Würden aufstieg, eine Zeit lang für die Friedensmissionen der UN zuständig, auch während des Massakers von Ruanda, des schlimmsten Völkermordes der jüngsten Geschichte. Wohl wahr, er sei untätig geblieben, erklärte er später vor einem Untersuchungsausschuss – aber die Entscheidungen, die alles hätten ändern können, würden ohnehin ganz woanders gefällt. Damit war die Sache nicht nur erledigt, er hatte sich nun auch für das höchste Amt qualifiziert, das ein weiser schwarzer Mann überhaupt erreichen kann: würdevolle Miene zu einem oft höchst unwürdigen Spiel zu machen, das er nicht beeinflussen kann – und auch nicht beeinflussen soll.