»Viele Schaustellerfamilien haben das letzte Geld am 23. Dezember verdient« 

Christine Beutler-Lotz ist Schaustellerpfarrerin und -Seelsorgerin, Gottesdienste hält sich schon mal im Autoscooter. Ihre fahrende Gemeinde leidet unter unter der Corona-Krise gleich doppelt. Der Fall ihres Lebens zeigte ihr aber, dass der Glaube kein festes Zuhause braucht. 

Illustration: Lina Müller

SZ-Magazin: Wo hält denn eine Schaustellerpfarrerin ihre Gottesdienste ab?
Im Festzelt oder tatsächlich im Autoscooter. Als Schaustellerpfarrerin bringe ich die Kirche zur Gemeinde, und die ist eben unterwegs auf der Kirmes. Wenn wir im Autoscooter Gottesdienst feiern, sitzen die Gemeindemitglieder in den Autoscooter-Wagen und auf Bierbänken, ein Biertisch wird zum Altar umgewandelt, die Glocken und flotte Gospels kommen vom Band. Oft nachts, das passt den Schaustellern besser in den Zeitplan. Ich mache auch Konfirmationen, Taufen und Hochzeiten. Die meisten Trauungen finden in der Kirche statt, manchmal aber auch auf dem Rummel. Ein Pärchen habe ich auf der Go-Kart-Bahn getraut, die Gemeinde stand auf der Fahrbahn, ein Gospelchor sang. Es war wunderbar.  

Wie sieht Ihr Alltag abseits der Feierlichkeiten aus?
Ich bin viel unterwegs, fahre etwa 30.000 Kilometer im Jahr. Über Social Media, Telefon und eine App, die mir meine Söhne programmiert haben, wissen meine Gemeindemitglieder, wann ich wohin komme. Auf dem Rummel gehe ich dann von Geschäft zu Geschäft, von mittags bis nachts, und rede dort mit Groß und Klein, mit Alt und Jung. Meist direkt an den Geschäften, das hat den Vorteil, dass die Menschen jederzeit aus dem Gespräch raus können, wenn es ihnen zu viel wird. Wären wir im Wohnwagen, wäre das schwieriger.  

Wie wird man überhaupt Schaustellerpfarrerin?
Ich komme selbst aus einer Schaustellerfamilie, meine Mutter ist noch immer mit einem Verlosungswagen unterwegs. Als ich Gemeindepädagogik studierte, erfuhr ich von Deutschlands damals einzigem Schaustellerpfarrer. Das es so etwas gab, war mir bis dahin unbekannt. Bei diesem Pfarrer machte ich ein Praktikum und fuhr sechs Wochen lang mit einem winzigen Campingbus über die Volksfeste. Es hat mir so gut gefallen, dass ich ein Anerkennungsjahr als Schaustellerseelsorgerin machte, anschließend schuf der Oberkirchenrat eine 30-Stunden-Stelle für mich, die es mir nebenher noch ermöglichte, Theologie zu studieren. Seit 1995 ist das eine ganze Pfarrstelle und ich bin als Schaustellerpfarrerin für das Gebiet der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau zuständig.  

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Aktuell finden keine Jahrmärkte und Volksfeste statt. Wie sehr leidet die Schausteller-Community unter der Corona-Krise?
Sehr. Viele Schaustellerfamilien haben das letzte Geld am 23. Dezember verdient, am letzten Tag der Weihnachtsmärke. Rund um Ostern geht die Saison los, seit Weihnachten haben viele ihr Geld in neue Fahrgeschäfte oder Reparaturen investiert und neue Ware eingekauft. Oft ist auch die Standgebühr schon bezahlt. Dieses große Loch, das jetzt entstanden ist, ist eine Katastrophe. Viele Schausteller müssen jetzt Grundsicherung beantragen oder sich übergangsweise nach anderen Jobs umsehen. Immerhin federn die finanziellen Hilfen des Staates für Kleinunternehmer die Katastrophe zumindest ein bisschen ab.  

Und emotional? Was macht das mit Schaustellern, wenn sie nicht reisen können?
Es ist schrecklich. Man kann sich als Sesshafter gar nicht vorstellen, wie sehr es bei Schaustellern kribbelt, sobald die Saison losgeht. Ich bin in vielen Whatsapp- und Facebook-Gruppen, da herrscht eine große Sehnsucht. Die Leute posten sehr emotionale Sachen, zum Beispiel Fotos und Videos von früheren Märkten. Nicht unterwegs zu sein, fällt ihnen sehr schwer. Aber es gibt den alten Schausteller-Leitspruch »Freude bringen unsere Sachen«, und diesen füllen viele jetzt mit Leben. Es gibt etwa Schausteller, die mit ihren Orgelwagen vor Altenheime fahren und für die Senioren spielen, die vom Fenster aus zusehen. Ich weiß auch von einer Familie, die normalerweise mit Toilettenwagen reist. Die haben Bedürftigen und Senioren Toilettenpapier gespendet.

»Es gibt zwei verschiedene Begriffe von Zeit. Einmal die Zeit, die ich messen kann, in Minuten, Stunden, Tagen. Und die Zeit, die ich verbringe. Die unbestimmt ist«

Bringt das Schaustellerleben spezifische Probleme mit sich, mit denen Sie als Seelsorgerin konfrontiert werden?
Die Probleme der Menschen sind sich oft ähnlich, unabhängig ob Schausteller oder nicht. Aber im Wohnwagen kann man sich nicht so gut aus dem Weg gehen, man hört auch von den Nachbarn mehr, als man hören möchte. Und man muss sich den Gegebenheiten anpassen. Das versuche ich. In einer normalen Gemeinde gibt es ja zum Beispiel Ende November den Totensonntag, an dem der Verstorbenen gedacht wird. Bei den Schaustellern beginnt aber am Tag danach der Weihnachtsmarkt, weswegen alle im Land verstreut sind und ihre Stände aufbauen. Deswegen feiern wir im Januar einen großen Gottesdienst, bei dem wir das Gedenken an die Verstorbenen nachholen. Der findet dann auch in einer Kirche statt, und Schausteller aus der ganzen Region kommen.  

Auch der Fall Ihres Lebens hat mit Trauerarbeit zu tun.
Ja. Es war eine etwas ältere Schaustellerin, die mit ihrer Familie ein Fahrgeschäft hatte. Ich kenne die Familie schon lange, habe die Enkel getraut und die Urenkel getauft. Die Frau war in ihren Siebzigern und hatte hartnäckige gesundheitliche Probleme. Es war nicht einfach für sie, sie musste oft vom jeweiligen Jahrmarkt ins nächstgelegene Krankenhaus, und wenn der Klinikaufenthalt länger dauerte, musste die Familie schon weiterziehen. Ihr Mann hat sich sehr für sie aufgeopfert, es war sehr beschwerlich. Aber sie war auch sehr gläubig und sprachen wir über ihren gesundheitlichen Zustand, sagte sie oft: »Im Vater Unser steht es doch: Dein Wille geschehe. Und Gottes Wille nehme ich so, wie er ist.«

Warum ist diese Frau zum Fall Ihres Lebens geworden?
Sie war eine unglaublich lebensfrohe Frau und sehr sozial. Wenn sie auf einem neuen Platz ankamen, war sofort ihre Tür auf, und jeder ist erst einmal zu ihr gegangen und hat einen Kaffee getrunken. Sie hat Gemeinschaft aufgebaut und verkörpert, und wenn die Menschen wieder gingen, hat sie sie mit »Geh mit Gott« verabschiedet. Sie hat sie gesegnet. Der Rahmen ihrer Beerdigung spricht für sich. Es kamen knapp 400 Menschen, zehn oder zwölf Schaustellervereine waren anwesend, die ihre Fahnen dabei hatten und ihre Begräbnisrituale durchführten, etwa das dreifache Senken der Fahnen vor dem offenen Grab. Aber was mich an dem Fall am meisten berührt hat, war etwas anderes.

Was?
Ich wurde kurz nach ihrem Tod zum Trauergespräch gerufen. Für so ein Gespräch verlässt man den Rummel, um ein bisschen mehr Ruhe zu haben. Trotzdem richtet sich auch das nach den Eigenheiten des Schaustellerlebens. Wenn zum Beispiel Weihnachtsmarkt ist, ist das für viele Familien das Hauptgeschäft, von dessen Gelingen abhängt, ob die Familie wirtschaftlich weiter existieren kann. Ihr Mann buchte mir ein Zimmer in einem Hotel, wo wir uns trafen. Nur ich, er, die Schwiegertochter und die Enkelin. Der Rest konnte nicht kommen, es war mitten in der Saison, überall musste auf- oder abgebaut werden. Der Sohn zum Beispiel war gerade anderswo auf Reise.  

Wie schafft man es, quasi zwischen Tür und Angel ein Trauergespräch zu führen?
Das ist, was mich so fasziniert hat. Wir saßen im Hotelrestaurant beisammen, aßen etwas und sprachen ein Gebet. Und dann erzählten wir uns von der Frau, ihre Geschichten, ihre Eigenschaften, und das so schön, so lebendig, so witzig, dass es war, als säße sie mit am Tisch. Sie war ja eine sehr lebhafte Frau gewesen, dementsprechend lebhaft waren auch die Geschichten. Wir haben richtig gelacht, es war toll. Die Frau war so gegenwärtig, dass sie uns getröstet hat. Ein besonderer Moment, ganz nah, ganz dicht, Zeit und Raum waren weg.

Braucht man nicht gerade das für ein Trauergespräch? Zeit und Raum?
Das ist etwas, was ich in diesem Gespräch erkannt habe. Es gibt zwei verschiedene Begriffe von Zeit. Einmal die Zeit, die ich messen kann, in Minuten, Stunden, Tagen. Und die Zeit, die ich verbringe. Die unbestimmt ist. Nach der ich sage: Das war eine schöne Zeit. So war es auch mit den Angehörigen im Hotel. Die Kellner merkten, das etwas Besonderes passierte, zogen sich ein wenig zurück und ließen uns den Raum. Ebenso die anderen Gäste. Und die Zeit, die wir hatten, war so erfüllt, dass sie unabhängig von Zahlen war. Sie war eine erlebbare Präsenz von Gott, mitten in diesem Hotel.