12.7. Berlin–München
Seit gestern lebe ich in der siebten Septine. Jetzt also der Abschnitt von 42 bis 48, die Jahre um das Alter herum, in dem der römische Mann politikfähig wurde. Reif. Mist.
Bei jeder Fahrt nach Tegel treibt mir das baldige Ende des Flughafens Tempelhof Tränen in die Augen. Hochziehen und runterschlucken. Geht bei Tränen nicht? Bei imaginären schon. Fliegen zum Taxipreis. Kruder Slogan. Was würde ein Taxi von Berlin nach Athen wohl kosten? Jedenfalls mehr als 29 Euro. Berlin, Athen, auf Wiedersehn.
Was ist an München schön? Die Buch- und Weinhandlung Dichtung & Wahrheit und natürlich – ein Steckerlfisch im Hirschgarten. Warum brät in Berlin niemand Steckerlfisch? Könnte man gut Geld mit machen. 230 Seen ringsum. Grillkohle gibt’s auch zu kaufen. Rendite müßte ganz stattlich sein. München. Diese überzuckerte Stadt. Wenigstens ist Peter Jonas endlich weg. Im Flieger sitzen, nebst vielen anderen, der Schauspieler Herbert Knaup und die Literaturpreisempfängerin Herta Müller. Seit vielen Jahren der erste schröderfreie Sommer – aber auch der erste ohne Gernhardt. Letzterer hat nie den Büchnerpreis bekommen. Daß es ernsthaft Menschen gibt, die glauben, in fünfzig Jahren würde man noch was von (hier die Namen etlicher Büchnerpreis-Träger einsetzen) lesen, das macht diesen Planeten so schillernd einzigartig im Kosmos.
Stieg vorhin in die U-Bahn, raus trat eben ein älterer Mann, er wandte sich zu drei fünfzehnjährigen Girlies um und rief: »Wie soll man denn da ein Gedicht vortragen, wenn ihr andauernd gackert!« Das hat mich sehr gerührt. Die pinkigen Girlies eher nicht, die kippten halb von den Sitzen und johlten. Gedanke, daß Mädchen vielleicht gnadenlos überschätzt werden. Gäb es kein Testosteron, Mädchen würden kaum wahrgenommen werden, außer als Belästigung.
Schwere Gewitter über München. Vom Flugzeug aus wunderbar zu beobachten; die Ränder des Sturms sind messerscharf gezogen.
Schnell Mails checken im EasyInternet gegenüber vom Hauptbahnhof. Ich tippe lang erwartete Antworten und hinter mir stehen zwei Männer, unterhalten sich laut, sehen mir über die Schulter. Kann ich nicht ab. Drehe mich um. Ob die beiden bitte einen dezenten Mindestabstand halten möchten? Der eine nickt und geht weg, der andere geifert mich an.
»Du Scheiß-Rassist!«
»Wie bitte?«
»Du kann dir vorstellen, wie ist, jeden Tag! Jeden Tag!« Der Mann, vom Teint vielleicht ein Perser, haut mir mit der Handfläche ins Schulterblatt. Geht ja gut los.
»Scheiß-Rassist!«, schreit er, »komm mit raus, du Sau! Jeden Tag! Jeden Tag das!«
Er wirkt wirklich zornig, scheint den Tränen nahe. Irgendwie unverdient, wenn man das so sagen kann. »Ich will keinen Streit mit Ihnen«, sage ich, »lassen Sie mich einfach hier meine Mails tippen.« Das ist natürlich der völlig falsche Ton. Ich hätte aufstehen, seine Hand küssen, um Verzeihung bitten müssen, daß ich ihn mit dem Hinweis auf landesübliche Sitten belästigt habe. Er ist sauer, richtig sauer. Gleich zieht er ein Messer. Er weint. Allen Ernstes. Tausende rassistische Übergriffe müssen sein Hirn mürbe gemacht haben. Er gibt keine Ruhe. Ballt die Fäuste, reißt sich letzte verbliebene Haare aus, stampft auf und ab. Brüllt mich an. »Jeden Tag! Jeden Tag!« Er erinnert mich an den cholerischen Perser aus L.A. Crash, dabei ist er vielleicht Armenier oder aus dem Irak, was weiß ich.
Er stürmt aus der Tür, ich atme auf, er stürmt gleich wieder zur Tür herein, fuchtelt mit den Fäusten, was ist da zu tun? Es paßt mir nicht, aufzustehen und zu gehen, aber sitzen zu bleiben und weiter lang erwartete Antworten zu tippen, dazu bin ich nicht cool genug. Ein wenig zu furchtsam, vielleicht. Wie gerne würde ich dem Irren sagen, hör mal, es ist mir egal, woher du kommst, wohin du gehst, aber du scheinst mir ein selbstgerechter Versager zu sein, der bei anderen die Schuld findet, die er bei sich selbst suchen sollte. Das geht nun leider nicht, schon wegen des Messers, das der Kerl vielleicht doch bei sich haben könnte. Also verlasse ich den Laden, räume das Feld. Genügt leider auch nicht, der Arsch läuft mir hinterher, will sich auf dem Gehsteig mit mir prügeln. Kann ich mir nicht leisten. Wenn die Polizei kommt, behauptet der Irre am Ende, ich hätte ihn einen Scheiß-Kanaken genannt. Wie steht man dann da? Also laufe ich los, ab in die U-Bahn, Rolltreppe runter, von meiner Flucht beschämt, nun ist es an mir, vor Zorn beinahe zu platzen, nun kann ich die Gefühle dieses Menschen einigermaßen nachvollziehen, ja. Alles ist für irgendwas gut. Wenn man darüber schreiben kann, ist es gut. Viele können das nicht. Welch angestautes Leben müssen jene führen? Kaum vorstellbar. Dem Perser sollte ich vielleicht ein paar Orte in Brandenburg nennen, wo er seine Opfer-karriere zum krönenden Abschluß brin-gen kann. Gut, das ist böse formuliert, aber schließlich bin ich sauer.
Steckerlfisch, endlich. Und eine Radlermaß. Hier bin ich wieder. Unter Freunden. Im Hirschgarten, einem Wohnzimmer meiner Kindheit. Die Gewitterwolken verziehen sich. Ein hübscher gemütlicher Nachmittag. An der Schießbude lege ich die neun Walzen mit drei Schüssen um, das ist mir nie zuvor geglückt und hat mir einen häßlichen kleinen Stoff-Frosch eingebracht. Die Alternative wäre ein Deutschlandwimpel gewesen.
Später mit Freunden auf Zentrumstour. Wir kehren ein im »Spatenhaus« gegenüber dem Nationaltheater. Ich liebe diesen großen, weiten, herrlich illuminierten Platz, links von mir die Bayerische Akademie der korrupten Künste, rechts die alte Post, die man im Falle einer Revolution als erstes zu besetzen hatte. Was wird in der Oper heute denn gegeben?, frage ich. Königskinder von Humperdinck. Nichts gegen Humperdinck grundsätzlich. Aber seine Königskinder sind einfach nur dröger Scheiß. Daß Peter Jonas so was seine Lieblingsoper nennt, sagt schon alles. So viele kleine Geschichten fallen mir ein, hier und da und dort erlebt. Es gibt eine Haut, die behält jede Schlange subkutan für sich, sooft sie sich auch schält. Am Nebentisch sitzen fünf Asiaten, die ein Stückchen Emmentaler in fünf winzige Würfel schneiden und diese dann, unter langem Zögern, Drehen und Wenden, verzehren. Ungefähr wie Kugelfisch-Essen für uns.
13.7. Augsburg
Soll heute auf der sechsten Radionacht des BR zehn Minuten Lyrik lesen, die irgendwas mit Brecht zu tun hat. Ich hasse es, zehn Minuten Lyrik zu lesen. Eine Stunde, gut, von mir aus auch zwei. Zehn Minuten dagegen – furchtbar. Ich bin von 20:34 bis 20:44 dran. Im Erdgeschoß des Filmpalastes ist für die Mitwirkenden ein Buffet aufgebaut. Nennen wir’s das Wurst-Käs-Szenario. Nein, das stimmt nicht ganz, im Kühlschrank gibt es abgepackte Sülze, die ist ungewöhnlich – und versöhnlich schmackhaft. Vorher langer Spaziergang durch diese Stadt, die mit au losgeht und mit urg aufhört. Die Stadt in Deutschland mit den meisten Feiertagen. Nur – was fragt ein Freiberufler nach Feiertagen? Der Bürgermeister empfängt uns Kulturschaffende im Goldenen Saal des Rathauses, fuggerische Pracht, die ich mit meiner Wegwerfkamera einzufangen suche, ironischer Akt, den keiner versteht, nicht mal ich selbst.
14.7. Ulm
Logis in einem sehr alten, schmalen Haus, inzwischen Hotel, die Mauern stammen aus dem 15. Jahrhundert und liegen hinter Glas. Sie zu berühren ist verboten, sagt ein Schild. Ist gar nicht möglich, sagt die Physik. Der Fußboden ist schräg, die Zimmerdecke schief. Das Fischerviertel – ein anachronistischer Schaumtraum mit überaus glück-lichen Trauerweiden, eine Zeitmaschine, die jederzeit zuschlagen und mich drei Jahrhunderte zurückkatapultieren könnte, ich laufe, der Gefahr gewärtig und um mich davon zu erholen, dreimal um das düstere Monstermünster herum. Was macht man hier? Man ulmt. Ist das ein Gegen-was-Anulmen oder mehr ein Vor-sich-Hinulmen? Eher ein unpersönliches, großes und gleichgültiges Urulmen, das uns alle zermahlt und zerreibt. Ulm weiß über mich Bescheid. Ulm. Ich sei einfach eine gute Woche zu früh da, meint die Barkeeperin. Warum ich nicht am Schwörmontag gekommen sei?
Am was?
Am Schwörmontag, das sei hier der oberste Feiertag. Da gebe es das Fischerstechen, die Lichterserenade, das Nabada und die Hockete. Aha.
Der Schwörmontag wird jedes Jahr am vorletzten Montag im Juli begangen. Nabada – schwäbisch für »Hinunterschwimmen« – ist der Abschluss des Schwörwochenendes in Ulm. Ab 16 Uhr befinden sich Hunderte Nabader im Wasser der Donau, um auf selbst-gebastelten Fahrgeräten die Donau hinabzutreiben und sich gegenseitig naßzuspritzen. Das Publikum skandiert zur Anfeuerung den Schlachtruf »Ulmer Spatza, Wasserratza, hoi, hoi, hoi«. Die Lichterserenade, eine Lichterschau zu Wasser, ist die Einleitung zu allem. Dabei werden bei Anbruch der Dunkelheit von den Ordinarischiffen, sogenannten Ulmer Schachteln, mehrere Tausende Teelichter auf das Wasser gesetzt. Im Anschluss gibt es noch ein Feuerwerk. Das nächste Fischerstechen und die damit verbundenen Fischertänze finden am Sonn-tag, den 12. Juli 2009, sowie am Sonntag, den 19. Juli 2009, statt. Die Hockete ist ein gemütliches Beisammensitzen, zum Ausklang der Feierlichkeiten. All das also bald. Jetzt grad nicht.
15.7. Stuttgart
Sagen wir’s mal so. Nichts gegen Stuttgart, an sich keine schlechte Stadt, aber: Ich stehe jüngst an der U-Bahn Gneisenaustraße, Kreuzberg, kommt so ’ne Art blonder Zottel-ossischlaks, Typus tiefste Uckermark, auf mich zu und fragt:
»Sagen Sie mal –
wo gibt’s denn hier Taxis?«
»Da vorne.«
»Vielleicht können ja auch Sie
mir helfen – hier soll es einen
Swingerclub geben …«
»Ja, der ist auch da vorne.«
»Haben Sie von dem die
Telefonnummer?«
»Nö.«
»Scheiße!« (Uckermarkzottel schüttelt erbost den Kopf und geht ab.)
So was erlebt man halt nicht in Stuttgart.
16.7. Mannheim
Ich werde immer etwas wehmütig in Mannheim, hier hatte Genie und Handwerk den vorletzten Auftritt, 1987, im Club »Old Vienna«, der, glaub ich, nicht mehr existiert. Und es gab damals keine versöhnlich stimmende Sülze im Kühlschrank. Alles sagte: Ende Musik, Ernst des Lebens beginnt. Prosa (also Geld) machen, nicht Musik. Es ist bezeichnend, in ein Alter gekommen zu sein, da man die meisten Städte, die man bereist, mit Siegen oder Niederlagen in Verbindung bringen kann. Die Landkarte wird historisch, wird zum Schlachtfeld.
Der Schlüssel zum letzten großen Geheimnis Puccinis liegt im Tresor einer Bibliothek, kann nicht ausgehändigt werden, weil der Tresorinhalt formaljuristisch noch nicht der Bibliothek gehört. Stagnation seit Monaten. Frust. Hölle. Weil es für die Identität von Corinna, Puccinis Geliebter von 1900 bis 1903, zwei konkurrierende Möglichkeiten gibt, wird dieser Tresor zu einer Art Käfig von Schrödingers Katze – und in meinem Kopf entstehen zwei Romane, je nachdem. In dem Sinne ist die Katze tatsächlich gleichzeitig lebendig und tot. Ansonsten, das hat Daniel Kehlmann neulich sehr überzeugend vertreten, ist es natürlich immer die Katze, die die Messung vornimmt. Weltweit aber sterben täglich glühende Puccinianer, die gerne noch gewußt hätten, wer jene sagenhafte Corinna denn nun gewesen ist. Haltet durch! Es ist eine tolle Geschichte, nachzulesen Frühjahr 08.
17.7. Heidelberg
Das unheimliche Landsberg Baden-Württembergs. Hier ist gar nichts schön, außer den Touristen. Ich kaufe, Vorsatz ist es gewesen, Heidelberger Heidelbeeren. Sie halten nicht, was sie nicht versprochen haben, das ist konsequent. Die Häuser behandeln mich ausgesprochen feindlich, stehen herum und sehen nach oben. Man kann es mögen, Venedig mag man ja auch, trotz allem. Mit der richtigen Braut wird man überall glücklich. Ich hocke vor der Universität, esse Eis, der einzige Platz, der nicht von einer unsichtbaren Glasglocke behütet scheint. Ein Leierkastenmännchen (Barcarole, Offenbach) wimmert in gebrochenem Deutsch um Spenden. Ich gebe ihm zwei Euro, er soll dafür zehn Minuten Pause machen. Es beschämt mich, daß er auf so ein mieses Geschäft bereitwillig eingeht. Abendessen in einem genuin kemenatenähnlich-romantischen Wirtshaus, zur Komplettierung der Idylle fehlt nur das verrauchte Hinterzimmer, in dem sich schlagende Studenten besoffen ihre Fressen mit Schmissen verzieren. Zum wie gewünscht blutigen Roastbeef wird ein Hügel aus Bratkartoffeln gereicht, ich esse tapfer, aber nicht mehr um jeden Preis. Lieber den Magen verrenkt, als dem Wirt was geschenkt – der eklige Kampfspruch Chiemgauer Bauernfünfer, bevor sie nach Mitternacht in ihre Maßkrüge kotzen. Nachts auf 3sat ein informativer und berührender Dokumentarfilm über Jörg Fauser. Darin erzählt seine Frau Gabriele, daß sie nie Angst um ihn hatte während seiner nächtlichen Sauftouren. »Ich bin ein erfahrener Trinker, keine Sorge, ich komme immer nach Hause«, habe er zu ihr gesagt. Dann kam der Lastwagen, um 4.10 morgens auf der Autobahn, und schleifte ihn mit, den Dichter, den überfahrenen.
Ich bin im herkömmlichen Sinn nicht religiös, aber ein imaginäres Szenario gibt es und reizt mich so sehr, daß ich mir manchmal wünsche, es gäbe da ein posthumes Nachspiel. Dies ist der Moment der Auferstehung, des individuellen Gerichts, der Augenblick, da man vor Gott gerufen und von ihm beurteilt, liebevoll aufgenommen – oder für immer verstoßen wird. Das wäre solch ein bewegender, feierlicher Höhepunkt der Existenz, ein finales Tribunal von ungeheurer, allem Geschehenen Sinn verleihender Tragweite, begleitet vielleicht von unbeschreiblicher Zeremonialmusik, mit einem kurzen Blick hinter die Ewigkeit verbunden, in seinen Konsequenzen gar nicht vorstellbar, weil man sich weder in Himmel noch Hölle ohne Kitschkulisse wiederfände. Aber die Sekunde, da man vor einen Schöpfer träte, wenn alles, was man getan oder unterlassen hat, einer Prüfung unterzogen würde, diese Sekunde, da man durchgewunken wird von der höchsten Instanz, wäre so sakral und komprimiert, daß man sie zumindest als Motiv der Kunst installieren müßte, als Droge der Vorstellungskraft, als Kulminationspunkt der Sehnsucht, und sei’s nur, damit bald ein Komponist uns diese Musik annähernd erfindet.
18.7. Freiburg
Im großen und ganzen ist Freiburg wie Barcelona, besonders die Erzdiözese, und oben, auf dem Schloßbergbiergarten, bietet ein Klein-Andechs die Aussicht auf Münster und Bächle hie und das Foltermuseum, auch hie. In letzterem gibt es unter vielen kaltlassenden Replikaten einen eiskalt berührenden originalen Florentiner Hängekäfig, in dem tatsächlich einst Menschen krepiert und verwest sind. Tut gut, bei der Hitze.
19.7. Frankfurt
In Frankfurt gibt es Cola von Pepsi, Afri und Coke. Einige der Flaschen sind sehr kalt, andere in guten Händen. Aber viel gibt es dazu nicht zu sagen. Es müßte einmal zu einem großen Schaukampf kommen, zwischen der Berliner Dampfwurst und der Frankfurter Rindswurst aus der Kleinmarkthalle. Wer würde obsiegen zuletzt? Welche Kampftechniken würden Anwendung finden? Frankfurt wird langsam etwas schöner, anders gesagt, die Häßlichkeit gewinnt an Konsequenz. Doch am Ende der Zeil stand eine laute ältere Dame, die ihrem Schäferhund sagte: Grauselig! Theo-derich, wie grauselig ist das geworden!
20.7. Nürnberg
Kurz in St. Lorenz und St. Sebald gewesen, Kirchen sind der einzige Hitzeschild an diesem Tag, das Thermometer erreicht 39 Grad Celsissimus. Es ist so heiß, daß der Lippenstift der Mädchen schmilzt. Rot tropft das von den Mundwinkeln herab. Oder haben die beiden Girlies eben derb in die Fresse gekriegt? Gehe ins Cinecittà. Nichts läuft, was mich auch nur lauwarm interessieren würde. Das schwächste Filmjahr seit 1906. Im »Burger King« klagt eine Rentnerin einem Rentner ihre Wehwehchen, der antwortet knapp: »Wir sind nicht für die Ewigkeit gemacht. Schnauze jetzt.«
Abends im Fernsehen: Stroszek, von Werner Herzog. Habe ich zuletzt mit zwanzig gesehen. Was für eine faszinierende Scheiße. Diese Freiheit. Bitte, ich muß dazusagen, daß ich Werner Herzog für einen der tollsten Regisseure aller Zeiten halte. Aber Stroszek – das ist nur wenig besser als Wim Wenders.
21.7. München
Muß aus beruflichen Gründen noch mal nach München. Schade, Trier, wär gern bei dir, aber hier kann ich heute gleich drei Stücke von mir sehen, an einem Tag. Da kommt man sich wichtig vor.
Später im Taxi, nachts um eins, an der Schrannenhalle vorbei, die erleuchtet ist, in der noch Betrieb herrscht. Nachts wirkt sie so überzeugend wie tagsüber sinnlos. Habe bei Dichtung & Wahrheit einen teuren Chardonnay gekauft für die Nacht, namens Kante 2002. Ich geb mir den Kante. Ist sein Geld nicht so ganz wert, ehrlich gesagt.
22. 7. Berlin
Schade, Saarbrücken. Muß meine Pläne ändern und aus Gründen unvorhersehbarer Schweißproduktion frische Kleidung holen in Berlin.
Hier passiert immer was Überraschendes. Wegen des Christopher Street Day nimmt der Bus M 41 vom Hauptbahnhof (der stahltotemgeil geworden ist, ja) eine Ausweichroute durch den Tunnel – und ich traue meinen Augen nicht, der Bus, ein öffentlich-rechtlicher sozusagen, ein Linienbus, der Verantwortung trägt, also mehr dessen Fahrer – rast bei Dunkelrot über die Kreuzung. Neben mir, so zauberhaft, ein bleiches Mädchen, kaum siebzehn – fängt zu singen an: Ein Bus, ein schneller Bus, der kennt kein Rot, der kennt nur Gelb oder Grün zur Melodie von »Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Beste, was es gibt auf der Welt« – da herrscht Atemraub und Blutstillstand, sofort möchte ich mir das Herz aus dem Brustkasten schneiden, es mit einer Widmung versehen, dem Mädchen überreichen, aber von einem, der 42 ist, käme das bestimmt als Aufdringlichkeit – zudem muß ich Rücksicht nehmen, auf alle, denen dieses Herz längst versprochen ist. Wie limitiert wird meine Existenz.
23.7. Köln
Freundliche Menschen, unter denen ich negativ auffallen muß.
24.7. Hagen
Die Stadt als solche könnte ein zweites Recklinghausen sein, hätte sie auch Ruhrfestspiele. Immerhin trägt sie einen wunderschönen Namen, den meiner Lieblingsfigur, des Urahns von Darth Vader.
25.7. Wuppertal
Hier spielt ein großer Teil von Eros und ich gehe die Stationen des Romans ab wie einen Kreuzweg. Hier lebte einst eine Frau, die ich wollte, was sich mit ihren Plänen nicht so recht vereinbaren ließ. Ihr zu Gedenken besuche ich erneut den verhügelten Tierpark, eine Elefantin damals litt unter einem Abszeß, Eiter floß ihr aus dem rechten Vorderbein, jetzt ist alles gut, die Elefantin gesund und mittelalt. So lange ist das her. Es ist schon erstaunlich, immer wieder, daß man soviel zurückliegende Zeit rekonstruieren kann und die Menschheit eine Weile lang begleiten darf, danach aber von allen Entwicklungen ausgeschlossen bleiben soll. Religion ist eine Haltung, die in den allermeisten Fällen einer erlittenen Beleidigung entspringt. Etwas Trotziges, im Kern aufbegehrend und zornig, aus Schmerz entstanden, das muß man konstatieren.
Der bedeutendste musikalische Beitrag zu den Neunzigern – Michael Nymans Songbook – ist nur noch antiquarisch zu erwerben. Da kann man zum Kulturpessimisten werden. I Am An Unusual Thing, die Vertonung eines Mozartbriefes – das ergreifendste Kunstlied, das je geschrieben wurde.
26.7. Bremen
Immer noch schweineheiß. Heute beginnt in Bayreuth der Ring, den ich inszenieren müßte, wäre Wolfgang Wagner gescheit und jung. Stattdessen, vor dem Bahnhofsgebäude: Performance einer Gruppe schwarzer Breakdancer – ich komme mir beim Zusehen so alt vor. Das Beleidigendste ist, daß sie hinterher nicht einmal schwitzen. Bea, am Telefon, meint, um mich zu trösten: Die kommen bestimmt aus sehr heißen Ländern. Die müssen das tun, um nicht zu erfrieren.
Ich ziehe mich vor der Hitze in die Kaufhäuser zurück. Besorge neue Hemden. Eigentlich kann ich nicht sagen, ich bin in Pirmasens oder Bremen oder Osnabrück, sondern müßte sagen: Ich bin grad im Kaufhof oder Karstadt – das trifft es viel genauer. Abends im Hotelfernsehen bei einer Riesenschüssel Erdbeeren mit Vanilleeis die Nozze di Figaro, schon eine elend lange Oper, kann man keinem Anfänger empfehlen, den man nicht verderben will. Anna Netrebko singt. Sicher einer der besten hundert Soprane unsrer Zeit. Christine Schäfer singt auch. Zum Heiratsanträge-Formulieren. Lektüre: Woraus wir gemacht sind. Hettche, die Vergänglichkeit entdekkend, zitiert einen alten Römer: Bedenke, daß du bald alles vergessen haben und daß du selbst vergessen sein wirst. Dies schrieb ein gewisser Marc Aurel – der bis heute nicht vergessen wurde.
27.7. Lüneburg
Grausame Kalauer – dem achtzig Jahre alten Tankred Dorst wirft man für seine erste Opernarbeit Anfängerfehler vor. Kleinst-Amsterdam ist im September eine der allerschönsten Städte. Jetzt aber denkt jeder in Deutschland an Selbstmord, egal wo, die Schwüle legt sich wie geschmolzenes Blei aufs Schädeldach – ich lege mich in die Badewanne, in achtzehn Grad kaltes Wasser, versuche zu lesen, aber die Buchstaben verschwimmen vor den Augen, schließlich gleitet mir das Buch aus den Händen, ich werde ein neues kaufen müssen. In dieser Stadt ging es mir letztes Jahr sehr gut, ich habe Tag und Nacht recherchiert für das Puccini-Projekt und dauernd etwas Neues gefunden, bei der Arbeit in der wunderbaren Wohnung des Literaturhauses mit Blick auf das örtliche Gefängnis. Hier gibt es Gäßchen, in denen man problemlos romantische Stoffe abdrehen könnte, ohne irgend-eine Werbungstafel abhängen zu müssen. Viele der Fachwerkhäuschen stehen schief, weil die darunterliegende Saline sich ab und an bläht oder zusammenzieht. Populär ausgedrückt. Habe mir 300 Gramm Heidschnukkenfleisch gekauft und oben auf dem Kalkberg ein Feuerchen gemacht – klingt waldbrandgefährlicher, als es war. Der ohnehin nicht allzu kalte Wein mußte binnen einer halben Stunde getrunken werden, um nicht als Heißgetränk zu gelten.
Im MP3-Player die Stimme Wilhelm Grünings, der eine Arie aus Leoncavallos Rolando di Berlino singt, Aufnahme von 1906. Kratziger Lärm, hat aber was, in dieser Caspardavidfriedrichkeit allumher. Mir ist einsam. Ich will nach Hause. Das Heid-schnuckenfragment erweist sich als zähes, undankbares Stück. Auf dem Portable DVD-Player läuft eine Folge (erste Staffel, die fünfte) der Hesselbachs, in der (schon 1960!) eine Triple-Split-Screen vorkommt, während ich das Schnuckenfleisch aus dem winzigen Gewürzwürfel mit Salz, Pfeffer, Knoblauch und Paprika bestreue. Sonderbar, das alles.
28.7. Hamburg
Niederschlagswahrscheinlichkeit weiterhin bei null.
Diese Stadt ist mir nicht mehr lieb. Die größte, unverdienteste Niederlage meiner Karriere hab ich hier erdulden müssen – Haltestelle. Geister. – am Schauspielhaus gegeben und verrissen, das nagt noch immer an mir. Andererseits ist das Spielcasino auf der Reeperbahn das einzige, in dem ich je Gewinn gemacht habe. In der Umgegend werden haufenweise Zimmerchen für 20 Euro die Nacht angeboten, Offerte, die ich immer mal annehmen wollte. Um Knut Hamsuns Weltumsegler-Trilogie einmal im passenden Ambiente zu lesen. Aber ich habe doch lieber ein Zimmer in St. Georg gemietet, klimatisiert. Wollte eine der vielen zahnlosen St.-Georgs-Nutten dazu bringen, mir bei Kerzenlicht Hamsun vorzulesen. Traue mich jetzt nicht. Erbärmlich. Außerdem – Kerzenlicht, bei dieser Hitze! Früher – das war die Zeit, wo man vieles einfach gemacht hat. Heute – ist die Zeit, wo es genügt, es sich nur auszudenken. Stimmt natürlich, die Idee reicht hin, dennoch, man kommt sich feig vor, und zu Recht, der realisierte Feldversuch birgt immer etwas nicht Vorhergesehenes. Genau das will man sich mit 42 ersparen. Bin in den Hamburger Schachclub gegangen, habe ein wenig die Blitz-Sucht befriedigt.
Weiß mit mir nichts anzufangen. Sollte vielleicht Leute auf der Straße fragen, wie sie sich in Deutschland so fühlen, nach der WM. Solchen Quatsch. Ich setze mich den halben Abend mit der Fliege auseinander, der durchgeknallten Headbangerfliege, die aus irgendeinem Grund alle zwei Minuten gegen meinen Kopf fliegt. Warum tut die das? Was hat sie davon? Kann man einer Fliege Bösartigkeit unterstellen? Jetzt läuft sie auf dem Bildschirm des Laptops herum. Diese Fliege ist ein Schwein. Um halb eins geh ich noch mal hinaus. Mein einziges Lebensziel, das ich spontan benennen könnte, wäre der Tod jener Fliege. Was man mit der Jugend eigentlich verloren hat, ist die Fähigkeit, mit Freizeit immer irgendwas anfangen zu können. Man ist einfach losgezogen und hat irgendwas gemacht, dem man heute keine Träne nachweint, das man damals aber klasse fand. Chopin – zweites Klavierkonzert im Handy-Radio, während ich an der Außenalster sitze. Geht. Gleich Akku aus. Habe mir so viel vorgenommen. Jetzt drängen sich Fliegen als allerletzte weiche Ziele in die Wahrnehmung. Alles, was lebt, macht sich wichtig, viel wichtiger, als es ist. Sogar ohne Wagner wäre die Welt irgendwie weitergegangen. Die alten Meister zu ehren bedeutet vor allem, sie immer wieder einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Wenn Thielemann beispielsweise behauptet, der Parsifal sei über alle Kritik erhaben, dann muß man sich eben wieder wie ein zwanzigjähriger Revoluzzer hinstellen und laut sagen: Nein, stimmt nicht, der zweite Akt ist routiniertes Kunsthandwerk, aus der Feder eines Siebzigjährigen kann keine erotische Musik entstehen, die nicht mit jeder zweiten Note nach Viagra ruft.
29.7. Lübeck
Nach dem Aufstehen die Fliege getötet und zur Abschreckung an die Fensterscheibe gequetscht. Lübeck ist eine wunderschöne Stadt, ich freue mich sehr, das Heiligen-Geist-Hospital wiederzusehen, eines der erstaunlichsten Gebäude, die ich kenne – eine große, sehr hohe Halle, die ab dem 19. Jahrhundert ca. hundert Kranken Unterkunft bot. Diese lagen in kleinen, dachlosen Häuschen, containerartig aneinandergeschraubt, drei mal einen Meter breit, geschätzt – Puppenstübchen, halb wirken sie beklemmend, halb rührend. Tolle Kulisse für einen historischen Stoff. Später wurde die Halle zum Altenheim umgewandelt, aus dessen sogenannten Kabäuschen erst 1970 die letzten Insassen entlassen wurden, sehr gegen ihren Willen, erzählt man. Aber eigentlich bin ich nach Lübeck nur gefahren, um Thomas Mann zu beleidigen. Dieser Kerl hat als einziger amerikanischer Exilant ein Bittschreiben um ein Visum für Brecht nicht unterzeichnet. Weil Brecht ihn, man denke und staune, einen Verfasser bourgeoiser, eitler und unnützer Bücher genannt hat. Nicht alle meine engen Freunde finden Thomas Mann so entsetzlich wie ich, deshalb verzichte ich auf meine im Stillen vorbereitete Beleidigung im großen Stil, um deren Gefühle nicht zu verletzen. Thomas Mann ist nicht mehr zu verhindern. Man muß mit ihm leben. Ein guter Grund, um zu sterben. Lektüre: Keyserling, Schwüle Tage. In Travemünde war ich auch, habe im Meer die vielen Quallen betrachtet. Tiere, die man nicht essen kann, vor denen man sogar Angst haben muß, stellen die Zivilisation in Frage. Am Ufer sangen vier versprengte Russen wehmütige Lieder. Rudimente irgendeines pleitegegangenen Donkosakenchors, Gemälden von Repin entsprungen, vier Sonntagstracht tragende Wolgatreidler, die mir leid tun.
30.7. Wismar
Wismar ist eine der allerschönsten Städte Deutschlands. War außerdem das Ziel des Schiffes mit dem Sarg von Nosferatu aus den gleichnamigen Filmen von Murnau und Herzog. Ich habe oft mit dem Gedanken gespielt, eine Erzählung zu verfassen: Die Reise des Grafen Orlok vom Schwarzen Meer nach Wismar auf der Demeter. Der zynische Bericht eines mächtigen, lebensmüden Vampirs über die kommende Fertigstellung Europas auf Kosten des alten Adels. Der angebissene Jonathan Harker reitet über Land, während das Schiff seines untoten Auftraggebers umständlich über Sizilien, Gibraltar, an Frankreich und Holland entlang, zur Ostsee segelt. Die Erinnerungen des Grafen Nosferatu. Eine große Erzählung, die beginnt mit den Worten: Die Verträge sind unterschrieben. Gebe ich hiermit frei zur allgemeinen Ausschlachtung. Alles kann ich nicht machen. Delegieren können, wenn die Lebenszeit es befiehlt. Es werde was draus.
Gibt Werke, die sich lange spreizen, bevor sie sich in Bottiche voller Ohrwürmer verwandeln. Menottis Il Console ist so ein Beispiel – nichts wünsche ich mir dringender auf die Spielpläne –, außer vielleicht Puccinis Letztfassung der Rondine. Eigentlich absurd, daß irgendein Theater darauf verzichtet, im Jahre 2006 die letzte mögliche Uraufführung einer Puccini-Oper zu realisieren.
Kaufe mir ein Dorschleberbrötchen und sitze am Kai, neben einem leeren alten Backstein-Fabrikgebäude, warte darauf, daß die Demeter um die Ecke segelt, mit einem ans Lenkrad gefesselten toten Kapitän und Särgen voller Ratten in transsilvanischer Erde. Wir liegen vorm schönen Wismar und haben die Pest an Bord – gleich drängt sich die Szene persifliert als Musical auf, nichts kann noch ernstgenommen werden.
Einer der besten Popsongs, die je geschrieben wurden: Mad Man Moon. Wo bekomme ich das um diese Uhrzeit her? In Wismar, kurz vor Mitternacht. Ich öffne, obsessiv verzweifelt, das Kompositionsprogramm auf dem Laptop, rekonstruiere die Melodie von Mad Man Moon, singe dazu. Das dauert bis vier Uhr früh und führt mir doch nur die Vergeblichkeit jeglichen Second-Hand-Daseins vor.
31.7. Rostock
Die Temperaturen sind erträglich geworden. Ich komme im Bus mit Einheimischen ins Gespräch und frage, wie es sich hier so lebt und ob man den Dresen-Film Die Polizistin gesehen und das Bild, das darin von der Stadt gezeichnet werde, empörend, weil zu einseitig gefunden habe. Rostock sei im Grunde okay, sagen mir zwei Jugendliche, in Dresden seien sie noch nie gewesen, Polizisten seien immer empörend einseitig. Aha. Habe wohl zu viele Nebensätze gebildet. Abends im Cinestar Rostock Wolf Creek. Großartig. Ein grausamer Horrorfilm, von etlichen Rezensentinnen als grausamer Horrorfilm verrissen, nicht etwa, weil er schlecht wäre, sondern eben: grausam. Betäubend schöne Bilder, realistische Dialoge, unerwartete Wendungen, ein verblüffender, so noch nie dagewesener Schluß. Da wünscht man sich eine Fortsetzung, in der irgendwo im Outback Australiens gewisse Rezensentinnen Teil der Handlung werden. Besonders grausam: Als der Killer dem geliebten Alphamädchen mit dem Messer das Rückenmark durchtrennt und es zum »Kopf am Stiel« erklärt. Unfaßbar. Erschütternd. Grenzen gesprengt, Tabus überschritten, aber wahrhaftig und avanciert in der Darstellung dessen, was es bedeutet, Menschen das Leben zu nehmen. Verstörend im besten Sinn. Meilenstein des Slasher-Genres. Spott jeder Konvention. Pädagogische Sternstunde. Filmisch ein Juwel, neben dem die Blair Witch albern wirkt, wie ein überkonstruierter Jungenstreich. Apropos realistische Dialoge – es gibt Kritiker, die ebensolche als platt empfinden, die der Kunst Künstlichkeit abverlangen.
1.8. Frankfurt/Oder
Zwischenhalt in Berlin. Bea bringt Post und Wäsche. Mittagessen in der »Osteria Uno«. Nach der Hitze fühlen sich 24 Grad heute beinahe wieder kühl an.
»Hier zieht’s irgendwo«, sage ich. »Kommt mir nicht so vor.« – »Dennoch: Es zieht.« –»Du hast Zugserscheinungen!«
Heute habe ich gelesen, daß im Londoner Stadtteil Shoreditch ein Projekt namens Neighbourhood-Watch Erfolge feiert. Das Problemviertel ist fast komplett videoüberwacht, die Einwohner können sich die Kameraeinstellungen live auf einen lokalen Fernsehkanal legen und, wenn sie etwas Verdächtiges sehen, sofort der Polizei Meldung machen. Die Kriminalität ist seither gesunken, der Wert der Immobilien gestiegen. Daß diese unverhüllte Form von Big Brother ausgerechnet in London wahr wird, erstaunlich, aber an sich egal, wo man die Menschen unter Druck setzt, sie stellen ihre Sicherheit über ihre Privatsphäre. Bald werden wir alle mit einem subkutan implantierten Chip nachts durch die Straßen kreuzen.
Zum neuen Almodóvar heute immerhin eine sehr mäßig begeisterte Kritik im Tagesspiegel. Es gibt Hoffnung. Die Zeit rückt alles zurecht. Sie läßt sich manchmal sehr viel Zeit, die Zeit, aber die hat sie schließlich auch.Erneut, diesmal im Zug, komme ich mit Einheimischen ins Gespräch und frage, wie es sich hier so lebt und ob man Schmidts Lichter und Dresens Halbe Treppe gesehen und die Bilder, die darin von der Stadt gezeichnet werden, zu trist gefunden habe.
»Wer spielt denn da mit, den man kennt?« War ein schon älteres Paar. Nun gut. Auf dem Bahnhof hier gibt es ein Gleis, von dem ein Zug binnen nur 29 Stunden nach Moskau fährt. Aufregend. Ich bin noch nie in Polen gewesen und überlege, ob ich das ändern soll. Na klar. Slubice erreicht man über eine Brücke, die Kontrollen sind lasch. Man geht in ein Europa zweiter Klasse, mit schlechtem Gewissen, aber nicht ganz so schlechtem Gewissen, weil diesem Teil Europas bald die Versetzung blüht. Die Oder bei Frankfurt ist sehr schön. Polen ist auch ein schönes Land und die Einwohner ähneln den unsrigen zum Verwechseln. Die Sprache ist einfach zu lernen, szyba heißt Scheibe, apteka Apotheke, dentalklinik Dentalklinik, kein Problem. Nur Ausgang heißt wyjscie. Das muß man sich halt merken. Polen sieht aus wie Teltow. Schon seltsam, immer noch, in ein Land zu fahren, das die Deutschen vor ein paar Jahrzehnten überfallen haben. Ich war zwar nicht dabei, verhalte mich aber superfreundlich gegen jedermann und demon-striere mit beschwichtigenden Gesten, daß keine Gefahr von mir ausgeht. Beschließe, da es hier um eine Deutschlandreise geht, von all meinen Abenteuern in Polen ein andermal zu berichten. Mit einer Stange Zigaretten und zwei riesigen Würsten schluß- endlich heim ins Reich. Ein Reiher, der hin-abstürzt und sich einen Fisch krallt, da-mit fortfliegt. Die Oder führt kaum Wasser, ist gerade mal knietief, man könnte den Fluß durchrennen in weniger als einer Minute. Auf dem Marktplatz prügeln sich zwei Glatzen. Wundervoller Anblick. Die Stadt braucht noch ein wenig Typberatung, aber sonst … Wie eine Oper von Alfano …Es gibt Stellen …
2.8. Cottbus
Aus Osten-Kostengründen hat man hier die Nibelungen Hebbels gegeben, nicht meine. Weil ich tausend Euro zuviel verlangte. Seither ist die Stadt in Bedeutungslosigkeit verkommen.
3.8. Dresden
Meine Schwiegermutter saß 1945 im Zentrum des Bombardements, kam wie durch ein Wunder mit dem Leben davon, das verbindet mich sehr mit Dresden. Die Stadt ist schon ein Goldengelrausch. Prächtige Abendsonne illuminiert sie wie eine Opernkulisse. Noch kulissenhafter dürfte sie allerdings nicht sein. Die Frauenkirche – ich bin ja immer dagegen, für Replikate teuer Steuergeld auszugeben, es sind Fälschungen, Geschichtsklitterungen – riesige anachronistische Kindertagesstätten, wie das wohl nicht mehr zu verhindernde Berliner Stadtschloß – aber hier habe ich Verständnis, die Frauenkirche ergänzt und bekrönt das Ensemble, liefert dank fehlender Verwitterung noch eine ganz neue Farbe. Vor der Semperoper. So würde ich den Anfang des Rheingolds machen: völliges Dunkel bis auf Alberichs Grubenfunzel und, nur als Irrlichter sichtbar, die Rheintöchter (müssen gar nicht auf der Bühne stehen, können aus dem Graben singen). Erst bei deren Rheingoldruf (wenn das Geschenk des Prometheus ausgepackt wird) erstrahlt die ganze Bühne, das ganze Haus, in blendend grellem Licht, so daß man wieder nur Silhouetten wahrnimmt. Natürlich fordert das Herzinfarkte! Muß man durch. Dann wieder finstere Nacht bis zum Richtfest im Morgenrot, dem schwierigsten Bild im ganzen Ring – hier muß man viel zu früh einige Karten aufdecken. Zwei Neonazis stehen vor mir auf der Rolltreppe, mit Race-War-T-Shirts und graphisch nur wenig abgeschwächten Swastiken. Kreischende Möwen über der Kreuzkirche vor Mitternacht. Hysterie am Himmel, weshalb? Egal. Ich habe Dresden gepackt, hochgehoben und Haus für Haus in mein Herz geschlossen. Wird langsam eng da drin. Werde große Teile Oslos verstoßen müssen.
4.8. Weimar
Vor drei Jahren habe ich hier Michael Nyman und Band an Goethes Geburtstag aufspielen gehört. Wird mir immer ein warnendes Beispiel sein, wie ein Künstler Lebenszeit verschleudert, mit Auftritten, die er eigentlich nicht machen will, die er eigentlich auch nicht machen muß. Wenn das Talent altersbedingt nachläßt, soll man sich eben im Studio verkriechen und so lange Ideen sammeln, bis doch noch ein annehmbares Konzentrat entsteht. Ich werde Künstler nie verstehen, die jede Geldarbeit annehmen, ohne damit etwas abzuliefern, das ihrem Namen Ehre hinzufügt. Warum kann man sich als alternder Künstler nicht mit längeren Laufzeiten abfinden? Warum findet man es geil, die Welt mit Abfallprodukten betrügen zu können? Man betrügt sich doch nur selbst damit.
5.8. Halle statt Schwerin
Mir sind heute wieder drei neue Fünfvokalwörter aufgefallen: Urszenario, Laguiole (ein Ort, nachdem ein berühmtes Besteck benannt wurde) und Abiturloser (das man allerdings in fast keinem Zusammenhang gebrauchen darf, als Beleidigung schon gar nicht. Ich habe in der Schule nichts gelernt, was ich nicht a. schnell wieder vergessen oder b. mir selbst viel gründlicher beigebracht hätte. Im Grunde ist Latein das einzig wichtige Fach, es schadet nichts, dazu ein wenig gezwungen zu werden.) Eigentlich wollte ich heute noch weiter nach Schwerin, aber da wird zur Zeit Breker ausgestellt, und mich damit zu befassen, fehlt mir hier der nötige Platz. Nur ist es doch erstaunlich, wieviel Angst man vor ein paar Skulpturen hat, seien sie nun faschistisch konnotiert oder nicht. Als wäre das heutzutage von irgendeiner gesellschaftlichen Relevanz. Daß in Potsdam eine Lenin-Statue wieder errichtet werden soll, an der Hegelallee, regt mich viel mehr auf, denn es ist, jenseits von allem anderen, eine Beleidigung Hegels. Einmal besuchten mich zwei siebzehnjährige Leserinnen aus Schwerin, ich ging mit ihnen in eine Kneipe, am Tresen saß Hans Brenner, ich sagte den Mädchen: Schaut: Hans Brenner! Aber sie kannten den Hans Brenner nicht. Ich sagte, daß er vor allem in Süddeutschland ein sehr bekannter Schauspieler sei und überdies der Vater von Moritz Bleibtreu. Da ging eine der beiden, die Hübsche, spontan hin und bat ihn um ein Autogramm. Sie tat das, um es mir zu schenken. Brenner aber, der Charmeur, wollte den Namen des Mädchens wissen, um ihr eine Widmung zu schreiben. Sie sagte ihren Namen nicht, weil es ja für mich sein sollte, dieses Autogramm. Und blieb standhaft. Schließlich schrieb Brenner: »Für Dich in ewiger Erinnerung, Hans Brenner«, gab ihr den Zettel und sie kam an meinen Tisch zurück und schob ihn mir zu. Es war mir peinlich, aber das hübsche Mädchen sagte, daß ich doch genau das gewollt hätte. Hatte ich ganz und gar nicht, aber für den Zettel war ich ihr, nach einigem Zögern, doch dankbar. Ein halbes Jahr später nämlich starb Hans Brenner und die Zeilen bekamen einen ganz anderen, wuchtigeren Klang. Sehr nachträglich hatte sich das Treffen doch gelohnt.
6.8. Eisenach
Hier wurde nie etwas von mir aufgeführt, und es regnet. Wartburg durcheilt, Bachhaus gegrüßt, Lutherhaus links liegengelassen, ich bin müde, suche mir ein großes Hotelzimmer, bestelle Pizza, surfe im Netz. Die liebenden Deutschen sind erschienen, herausgegeben von Steffen Jacobs. Ich habe nun wirklich 39 der 40 schönsten Liebesgedichte geschrieben – und was nimmt Jacobs von mir in die Sammlung auf? Das Gangsta Pome. Hm. Mein Schreiben hat eine burschikose und obszöne, manchmal auch gewalttätige Seite. Aber auch eine sehr sensible, romantische, zärtliche – wenn jemand all das ignoriert und stattdessen so etwas Winzig-Nettes auswählt, muß mich das stören dürfen, oder? Alles muß mich stören dürfen. Es stört, basta, ob es darf oder nicht. Sie zupft sich Tabakkrümel von der Unterlippe. Dauernd. Ich verstehe kaum, was sie sagt, weil sie mit aufgeklapptem Mund weiterredet. Ihr Daumen und ihr Zeigefinger verändern die Tonhöhe ihrer Vokale. Die Konsonanten verschrumpeln zu Knurrgeräuschen. Sie ist in dem Alter, in dem man ununterbrochen reden muß. Ich bin im Alter, da ich ihr zuhören kann, ohne sie unterbrechen zu müssen.
So entsteht der Anfang einer Erzählung, um zu kaschieren, daß die, die sich Tabakkrümel von der Unterlippe zupft, nicht da ist. Vielleicht hat sie rote Haare, sie ist nicht da, oder nur in der Vorhut der Sehnsucht, ich bin einsam, schreibe mir eine Begleitung herbei. Eben wiedergelesen: Tod auf Kredit von Céline. Nicht mehr so wirkungsvoll wie einst, deutlich für Zwanzigjährige eher geschrieben als für Vierzigjährige, aber immer noch der allererste Punkroman der Literaturgeschichte. Brutal und gnadenlos wahrhaftig. Was kann den Fakt, daß wir alle einst elendig krepieren werden, euphemisieren? Und die Antwort ist klar: die Liebe. So schwülstig das klingt. Es gibt Menschen, die die Gnade der Liebe erfahren, und andere, denen sie verwehrt bleibt. Die dürfen dann auch komplett anders über das Leben schreiben als die Glücklichen, ihre Wahrheit ist nicht anzuzweifeln, ist genauso gültig. Die Menschheit läßt sich in zwei Kasten teilen, und beide haben das Recht, nach bestem Wissen für ihren Standpunkt Reklame zu machen. Gott würde bei so etwas eher stören, weswegen ein Autor von Rang wenigstens während des Schreibens Atheist sein muß, schon allein, um sich der Grausamkeit des Daseins gewachsen zu zeigen, ohne dauernd auf einer höheren Ebene Spiegelgefechte führen zu müssen. Selbst ein tiefgläubiger Autor müßte Gott immer außen vor lassen. Denn Gott bleibt nun mal außen vor. Die Natur ist durch und durch gottlos, von Angst geprägt.
Es gibt hingegen Leute, die den schlaraffischen Gottesbeweis schon daraus beziehen würden, daß manche Tiere aus Wurst bestehen.
7.8. Bamberg
In der Zeitung lese ich über einen sensationellen Fund, der oberhalb Kretas aus dem Meer gezogen wurde, im Jahr 1900 bereits, ein verfallenes Holzkästchen mit einem komplexen Räderwerk, dessen Mechanismus seither mit immer neuen technischen Hilfsmitteln Stück für Stück nachvollzogen werden konnte. Eine im ersten vorchristlichen Jahrhundert vom Astronomen Poseidonius auf Rhodos ersonnene Technik, eine Reihe von Zahnrädern in 60-Grad-Verzahnung, mit einem Differentialgetriebe versehen. Die hochkarätige Technologie ähnelte einem modernen Analogcomputer, sie diente dazu, die Bewegung von Himmelskörpern zu berechnen. 1832 wurde in England das erste Differentialgetriebe als Patent angemeldet, um einen Vergleich zu bieten. Es ist und bleibt unfaßbar. Durch den Untergang des Römischen Reiches fiel die Menschheit in ihrer Entwicklung um etwa 1300 Jahre zurück. Das heutige Europa möge sich dessen stets erinnern.
Langweile mich. Die Bamberger Bahnhofskriminalität ist von mäßigem Freizeitwert.
Kafka wäre, hätte Max Brod seinem letzten Willen entsprochen, kein Gescheiterter gewesen, nein, aber einer, und diesem Vorwurf muß er sich stellen, der der Welt nicht das gegeben hätte, was er ihr hätte geben können. Ein Vertragsbrüchiger.
Denn, und das ist meine vielleicht romantische Auffassung – für dieses große Leben muß man Tribut entrichten, muß etwas zurückzahlen, der Künstler, dem Talent gegeben wurde, hat die verdammte Verpflichtung, dieses Geschenk in eine Gegengabe zu verwandeln. Er kann auch dem Suff verfallen und sich dem Leben ver-weigern, schade. Aber sein Werk, weil man nicht so ganz damit zufrieden ist, fürs Feuer zu bestimmen, das ist eine Haltung, die mich ankotzt. Ist Nirwana-Eitelkeit, schlimmer als jede irdische Allzumenschlichkeit.
Wenn eines Tages herauskäme, daß Max Brod und Franz K. sich abgesprochen haben sollten, vielmehr der todkranke Franz Freund Max gebeten hat, er möge seinen Nachlaß verbrennen, aber mit einem Unter-vier-Augen-Zwinkern, das würde mich beeindrucken.
8.8. Leipzig
Leipzig, auch einer der Schauplätze von Eros, ist eine ungewöhnlich schöne Stadt geworden, die es mit dem Prunk stellenweise schon wieder übertreibt. Das neue Museum der bildenden Künste. Von außen wehrhaft feindselig, innen mit dem Charme einer kryonischen Endlagerungsstätte. Fünf Meter hohe Türen, die man auch noch selber aufmachen muß. Architektur, die mir angst macht. Und ich bin da sonst nicht gerade heikel, habe ein Faible fürs Hohe, Klare, Erhabene. Das hier zwingt einen in die Knie. Man gewöhnt sich dran, gewiß, aber wozu?
Viel Kitsch, viel Quatsch. Kitschquatsch. Eine sofortige, profunde persönliche Auseinandersetzung wert schien mir vor allem die Arbeit der Chapman-Brüder – The Shape of Things to Come. Ein Werk, wie ich es als Kind realisiert hätte, wären mir Material und Fähigkeiten gegeben gewesen. Apokalyptische Landschaft voller Leichenberge und aufgespießter Köpfe. Großes Thema: Die Grausamkeit von Kindern. Die Grausamkeit von Menschen überhaupt. Unfaßbar, was unter dem Teppich schwelt.
Das Schönste im Museum der bildenden Künste war eine schwarzhaarige Aufseherin im Klinger-Saal. Das Schönste und das Schrecklichste waren sich ganz nah.
Nachts wirkt das Gebäude viel weniger abweisend, weil Segmente des großen Blockes illuminiert sind, transparent, sich öffnen, entblößen, exhibitionieren – ihr strukturelles Geheimnis mitteilen.
Gegen Morgen schwer im Tran. Arbeite an für solche Fälle vorbereiteten Projekten – minimalistische Gedichte mit nur einem Vokal, das kann man immer tun. Nix dem Zulall überfassen.
9.8. Coburg
Heute, anno 2006, hat das bayerische Kabinett sich nach langen Debatten entschlossen, Carl Friedrich Gauß und Heinrich Heine in die Walhalla aufzunehmen. Da freuen die sich. Gewiß.
aller voraussicht nach
werde im alter auch ich
milde werden, versöhnlich.
aller nachsicht voraus-
brülle ich heute für zwei.
Coburg ist schöner, als ich dachte. Nicht viel, aber immerhin.
Hätten die Gebrüder Skladanowsky einen ähnlich tragenden Namen getragen wie die Gebrüder Lumière, wahrscheinlich würden sie heute als Erfinder des Kinos gelten. Aber Lichtbringer, Lichtgestalten, die auch noch so heißen, da greift die Geschichte zu. Das läßt sie sich nicht nehmen. Äußerlichkeiten für eine äußerliche Welt.
Spät in der Nacht erfahre ich, daß eines gewissen Lyrikers neuer Gedichtband Was gestern morgen war heißen wird. Klingt arg nach einem unveröffentlichten Gedicht von mir, dessen dritte Zeile lautet: Was gestern morgen schien. Habe keine Lust, als Dieb dazustehen, deshalb erwähne ich das. Bewußt geklaut habe ich nie. Wie-wohl man eigentlich alles Schöne klauen müßte, das ansonsten von der Vergänglichkeit zermahlen werden wird. Um es in der eigenen Arche eine kleine Weile lang zu retten vor den Wellen. Sehr eitler, maßlos selbstgewisser Gedanke, aber ohne Eitelkeit verkommt alles. Muß man auch mal so sehen.
10.8. Erfurt
Manchmal wurde ich angesprochen, ob der Ausdruck »eine Lesung geben« nicht elitär und obsolet sei, man könne doch sagen: »Man mache eine Lesung«. Ich mache manchmal Mist, aber eine Lesung gebe ich, die allerhöchstens der Veranstalter macht. Selbst der organisiert sie lieber. Wenn sie gut läuft, gibt’s eine Zugabe – oder man macht die Zumache.
11.8. Magdeburg
Ich kenne die Stadt fast nur von alten Veduten, meist Kupferstichen aus dem Dreißigjährigen Krieg. Weiß heute noch irgendwer, was magdeburgisieren hieß? Als ähnliches urban geprägtes Wort fällt mir nur shanghaien ein, auch längst aus der Mode. Wenn eine Stadt jemals mit einem solch furchtbaren Schlag getroffen wurde wie Magdeburg beim großen Massaker, reichen Jahrhunderte nicht hin, um die assoziative Delle im Raum-Zeit-Gefüge glattzubügeln. Seltsam, daß niemand je auf den Einfall kam, man könne eine Stadt hiroshimachen oder nagasakieren. Oder eindresden.
Trotz aller Vorbehalte gegen Hundert-wasser – die Grüne Zitadelle gefällt mir. Man muß davor und darinnen stehen, darf sich sein Urteil nicht über Postkarten bilden. Ein ironischer, rosafarbener Zauber, der so vielleicht gar nie gemeint gewesen war. Egal.
Abends beginnt die Bundesliga-Saison mit dem Spiel Bayern gegen Dortmund. Davor wird die Nationalhymne angestimmt. Bitte, das nervt. Ist nur Spielverzögerung. Da wußte mal wieder jemand nicht, wann es auch wieder gut ist. Seit dieser WM – dem eigentlichen Schlußpunkt der deutschen Wiedervereinigung – ist vieles möglich, was es vorher nicht war, auch im Kommentar zu den momentanen Konflikten in Nahost. Nun kommt noch Grass und strebt eine Zweitfacette an.
Mir fällt gerade auf, daß man im Kino Kopfschüsse fast nur als Stirn- oder Schläfenschüsse zeigt. Ein paar Beispiele gibt’s, wo die Kugel ein Loch in die Wange reißt, aber wo bitte hätte man schon mal einen Schuß von vorn in die Zähne gesehen? Ist visuell sicher nicht so leicht glaubhaft zu realisieren, müßte aber eine mitreißend widerliche Wirkung haben, vor allem akustisch.
12.8. Potsdam
Potsdam, die allerschönste deutsche Stadt. Hier zu leben ist ein Geschenk, das man sich machen kann, ohne viel bezahlen zu müssen. Kommt man aus München, spart man sogar massiv an Lebenshaltungskosten. Bea weist mich auf eine Pfauenaugenraupe hin, fügt hinzu, daß jenes Wort dreimal hintereinander die Vokalabfolge a-u-e bietet, dabei ganz unbemüht wirkt, anders als etwa, was weiß ich, Bauersfrauentrauer. Wir fahren trotz des kühlen Wetters schwimmen, nahe Schloß Petzow, hinter dem Lenné-Park, Arkadien pur – und ich lerne aus dem Radio: Es heißt nicht Cáputh, es heißt Capúth – es gibt hier viele Orte, die auf der letzten Silbe betont werden, wie zum Beispiel Berlín. Oder Férch.
In Deutschland geboren zu sein, darin leben zu dürfen ist ein Privileg, auf das man nicht stolz sein kann, aber dafür dankbar zu sein ist erlaubt. Wenn man bedenkt, was unsre Großväter angestellt haben, als sie dereinst ihren Verstand verbummelten, könnte man sagen: Uns wurde aufgrund früherer Meriten noch mal eine Chance gegeben, die haben wir optimal genutzt.
Heute kam schwere Post aus Italien. Das Einwohnermeldeamt von S. hat meine Anfrage nach so vielen Wochen doch noch beantwortet. Gleich werde ich das Kuvert aufreißen und vielleicht endlich wissen, wer Corinna war. Höre dazu meinen der-zeitigen Lieblingstrack, Infrared von Placebo, Kampfmusik, die mich dazu bringt, nachts zwischen flüchtigen Wolken mit der Peitsche auf eine Quadriga schwarzer Rosse einzuhauen.
Die Banalität, die der Lösung des Rätsels folgen wird, macht mir angst. Aber alles hat ein Ende, selbst die zwei riesigen Würste aus Slubice.
Eine Buchversion der Aufzeichnungen Helmut Kraussers in stark erweiterter Fassung ist in Planung.