»Als ein vorhergehender ICE ausfiel und in Fulda dessen Reisende in unseren Zug drängten, hieß es, der Zug sei zu voll, alle Reisenden ohne Platzkarten müssten aussteigen. Eine Mutter mit zwei kleinen Kindern saß am Boden, ihre Platzkarten galten nur für den ausgefallenen Zug. Wer darf im Zug bleiben? Die Mutter mit Kindern oder die mit Platzkarten für den fahrenden Zug?« Bernhard S., Landau
Man kann die Situation so sehen: Ein bestimmter Zug ist ausgefallen, und die Reisenden hatten in diesem Zug Pech, was aber die Reisenden in einem anderen Zug, der nicht ausfällt, nicht betrifft. Oder man sagt, dass von zwei in eine Richtung fahrenden Zügen einer ausgefallen ist und kein Reisender etwas dafür kann, ob es gerade seinen Zug trifft oder nicht – in der Gerechtigkeitstheorie nennt man das »reinen Zufall« oder brute luck. Da wäre es ungerecht, die Reisenden des einen Zuges besser zu stellen als die des anderen.
In der Gerechtigkeitstheorie würden sich jetzt viele Streitpunkte eröffnen, aber man muss diese nicht entscheiden, sondern kann die Überlegungen und vor allem die beiden Betrachtungsweisen für eine Antwort hier verwenden.
Betrachtet man die beiden Züge zusammen, würde man, wenn es keine anderen Kriterien gibt, vermutlich am besten losen, wer weiterfahren darf, also den Zufall entscheiden lassen. Genau das ist aber schon geschehen, wenn man die beiden Züge getrennt betrachtet. Die Reisenden sind gewissermaßen zusammen mit dem Zug, in dem sie sitzen, in eine große Lostrommel geworfen worden. Und die des einen Zuges hat es eben getroffen: reiner Zufall, brute luck. Jedoch mit einer Einschränkung: Das Los ist dann gerecht, wenn es keine anderen, besseren Kriterien für eine Auswahl gibt.
Die gibt es aber, wenn eine Mutter mit zwei kleinen Kindern unterwegs ist, für die es ungemein schwerer ist, zu warten oder umzusteigen. Wenn keine besonderen Umstände vorliegen, ist es vertretbar, sich auf das Zufallslos zu berufen, dass der eigene Zug, für den man Platzkarten hat, fährt und nicht der andere. Wenn aber besondere Umstände vorliegen, wie bei der Mutter mit zwei kleinen Kindern, schlägt dieses Argument das Losglück.
Literatur:
Lippert-Rasmussen, Kasper, »Justice and Bad Luck«, The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Summer 2014 Edition), Edward N. Zalta (ed.),Online abrufbar hier
Gabriel Wollner, Luck Egalitarism, in: Anna Goppel, Corinna Mieth, Christian Neuhäuser (Hrsg.), Handbuch Gerechtigkeit, J.B. Metzler Verlag, Stuttgart 2016, S. 249 – 254
Allgemein lesenswert zur Gerechtigkeit:
Otfried Höffe, Gerechtigkeit. Eine philosophische Einführung, Verlag C.H. Beck, München, 5. Auflage 2015
Christoph Horn, Nico Scarano (Hrsg.), Philosophie der Gerechtigkeit. Texte von der Antike bis zur Gegenwart, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002