Die Gewissensfrage

»Obwohl ich mich seit meiner Jugend politisch dafür einsetze, das Fliegen aus Klimaschutzgründen zu verteuern, profitiere ich nun von den stark gesunkenen Preisen für Flugtickets und fliege häufig recht günstig von Berlin nach Bonn. Dabei verhalte ich mich doch nur demokratisch: Ich akzeptiere die Mehrheitsentscheidung, die Fliegerei nicht zu verteuern, und nutze dann die Möglichkeiten, die sich daraus für mich als Individuum ergeben – obwohl ich eigentlich anderer Meinung bin. Oder sehe ich das falsch? Muss ich allein leiden, obwohl die Mehrheit dies nicht tut?« HOLGER L., BERLIN

Sie tragen vermutlich einen Vollbart. Nicht dass ich ein pauschales, vorurteilbeladenes Bild davon hätte, wie ein Umweltaktivist auszusehen hat. Ich unterstelle Ihnen schließlich auch keine groben Wollsocken in Birkenstock-Sandalen oder ähnliche Attribute aus der Frühzeit der Naturschutzbewegung. Nein, ich vermag mir schlicht und einfach nicht vorzustellen, wie Sie sich rasieren. Dazu müssten Sie schließlich in den Spiegel schauen, und dass Ihnen das noch problemlos gelingt, will ich nicht glauben.Sie merken schon, so ganz kann ich Ihrer Argumentation nicht folgen. Wo ist also der Fehler, wo das Unmoralische? Sich für den Klimaschutz einzusetzen ist sicherlich hochanständig, das kann es nicht sein. Ist es unmoralisch zu fliegen? Auch das würde ich so nicht behaupten wollen, wenngleich ich bei Inlandskurzstrecken schon ins Grübeln komme. Aber selbst wenn, auf jeden Fall wiegen die Flüge zwischen Bonn und Berlin nicht so schwer, dass Sie fortan Ihr Spiegelbild scheuen müssten. Wirkt sich das Fliegen auf Ihr Engagement für den Klimaschutz aus? Womöglich sogar positiv, wenn Sie es dadurch effektiver betreiben können. Aber kann Ihr Engagement davon böse werden? Nein, es bleibt ein hehres Ziel, das von Ihnen keineswegs mit unlauteren Mitteln verfolgt wird. Wo also liegt das Problem? Offensichtlich weder in dem einen, noch im anderen, sondern dazwischen: in seiner Verbindung, und die sind Sie! Es geht weniger um Ihre Handlungen, als um Sie persönlich. Der Konflikt entsteht daraus, dass Ihr Anliegen und Ihr Tun diametral auseinander fallen. Das macht Sie nicht nur unglaubwürdig; vor allem sind Sie dabei unehrlich gegenüber sich selbst und das belastet den Blick in den Spiegel. Sie haben bestimmte moralische Vorstellungen. An diesen und nicht an Mehrheiten müssen Sie Ihr Handeln ausrichten. Staat und Gesellschaft stecken nur den Rahmen ab, in dem wir uns bewegen dürfen. Ihre individuelle Position innerhalb dieses Rahmens müssen Sie eigenständig wählen und verantworten – auch und gerade gegenüber sich selbst.