Die rechtliche Lage scheint klar: Der Alte Nördliche Friedhof in München ist, obwohl dort seit 1939 keine Beisetzungen mehr stattfinden, nach wie vor als solcher gewidmet. Die städtische Friedhofssatzung verlangt von Besuchern, sich entsprechend zu verhalten; und das schließt nach Auskunft der zuständigen Behörde Joggen und Dehnübungen an Grabsteinen eindeutig aus. Nun dürfte Ihnen weniger an Informationen liegen, welche ein Anruf im Rathaus liefert, als vielmehr daran, wie es jenseits von Paragrafen – und Religion – aussieht. Und da komme ich nach längerer Überlegung zu dem – zugegebenermaßen subjektiv gefärbten – Ergebnis: Joggen ja, Dehnen nein.Warum? Wenn auch nicht Bestandteil des Lebens, vielmehr das Gegenteil, gehört der Tod dennoch ebenso zum Menschsein wie das Leben. Insofern muss man den Toten nicht mehr Respekt entbieten als den Lebenden, aber genauso viel. Friedhöfe sind keine Orte des Schreckens oder unberührbare Sonderbereiche unseres Daseins, sondern »letzte Ruhestätten« von Mitmenschen und Orte der Trauer. Dort zu joggen – als Teil des öffentlichen Lebens – erachte ich nicht als verkehrt, schließlich stellt Laufen kein unziemliches Spektakel dar. Anders hingegen die Dehnübung am Grabstein: Damit treten Sie dem Verstorbenen zu nahe. Schließlich hätten Sie sich auch nicht zu Lebzeiten an seinem Stuhl oder Bett gedehnt. Sicherlich sind die letzten Überreste des Assessors nach mehr als hundert Jahren schon in die Natur zurückgekehrt und auch keine trauernden Angehörigen mehr zu schonen. Ich finde auch nicht, dass ein Grab, wie es etwa Judentum und Islam fordern, auf ewige Zeiten angelegt sein muss. Solange es aber vorhanden ist, wie in diesem Fall, sollte man es respektieren. Sonst verkehrt man die Erinnerung an den Menschen und damit einen Teil von ihm zur puren Dekoration und das scheint mir selbst nach dieser Zeitspanne problematisch.
Die Gewissensfrage
»Zurzeit wird viel über die Würde des Menschen, die über den Tod hinausgeht, diskutiert. Deshalb gerate ich ins Grübeln, wenn ich auf dem Alten Nördlichen Friedhof in München joggen gehe. Die letzten Beerdigungen dort liegen lang zurück; viele Grabsteine sind verwittert, die Namen aber noch lesbar. Ist es verwerflich, wenn ich mich am Grab eines Bezirksamtsassessors, verstorben 1897, abstütze, um Dehnungsübungen zu machen?« HERBERT F., MÜNCHEN