Die Gewissensfrage

"Mein Mann und ich wollen den Kilimandscharo besteigen. Kürzlich diskutierten wir, ob der eine, falls der andere während des Aufstiegs höhenkrank werden sollte, allein den Weg zum Gipfel fortsetzen oder bei dem Kranken bleiben solle. Ich würde bei meinem erkrankten Bergpartner bleiben. Mein Mann ist der Meinung, der Gesunde könne weiter zum Gipfel gehen, sofern die angemessene Betreuung des Kranken geährleistet ist, denn schließlich koste eine solche Reise auch jede Menge Geld. Was meinen Sie dazu?" Kristin B., Berlin

Hoffentlich ist Ihnen klar, was für ein vermessenes Unterfangen Sie hier starten: Moral von unten hoch auf die Berge zu tragen. Dabei pflegt das doch für gewöhnlich andersherum zu geschehen, seitdem beim wohl bekanntesten Moraltransport Moses die Zehn Gebote vom Berge Sinai zum Volk hinab ins Tal brachte.
Dennoch wollen wir es pflichtgemäß versuchen, schließlich geht es auch um Pflichten: gegenseitige Hilfe und Unterstützung. Nicht nur ein Grundpfeiler jeder Beziehung, sondern auch eines der ehernen Gebote am Berg. Dagegen zu verstoßen kann in beiden Konstellationen tödlich sein: In der einen für die Liebe, in der anderen gar für die Beteiligten selbst.
Kann man dann im Voraus auf sie verzichten? So hart es klingt, ich finde: ja. Meines Erachtens können Erwachsene mit klarem Verstand das Ausmaß wechselseitiger Pflichten in weiten Grenzen frei vereinbaren, ohne dass es unmoralisch wird. Zumindest wenn, wie hier, die Versorgung sichergestellt ist. Allerdings kann man das – so wie Sie – auch anders sehen, im Sinne einer Care-Ethik, einer Ethik der Zuwendung, die sich nicht an Pflichten und Absprachen, sondern an persönlichen Bindungen, Fürsorglichkeit und Anteilnahme orientiert. Diese Sichtweise können Sie Ihrem Mann nun nicht aufzwingen. Sie haben jedoch völlig freie Wahl, ob Sie der Abmachung zustimmen und wie Sie mit seiner Einstellung umgehen; ob Sie mit jemanden, der so denkt, auf den Kilimand-scharo gehen wollen – und durchs Leben. Und es bleibt ein Aspekt, der sich nicht durch Absprachen beseitigen lässt: Die Höhenkrankheit zeichnet sich auch durch eine psychische Komponente aus. Wenn gegebenenfalls ein zitterndes Häuflein Elend nicht nur nach Infusionen, sondern auch nach dem emotionalen Halt des Partners verlangt, hielte ich eine Berufung auf Abmachungen zumindest für herzlos.

Haben Sie auch eine Gewissensfrage?
Dann schreiben Sie an Dr. Dr. Rainer Erlinger, SZ-Magazin, Rindermarkt 5, 80331 München oder an
gewissensfrage@sz-magazin.de.

Illustration: Jens Bonnke