Die Gewissensfrage

"Ich lese gern Ihre Kolumne und bin jede Woche gespannt auf die Leserfrage und Ihre Antwort, die ich meistens gerechtfertigt finde. Streng, aber richtig. Aber wenn ich selbst in ähnliche Situationen gerate wie die Fragesteller, halte ich mich doch nicht an Ihre Ratschläge. Ausreden gibt es genug: Ein Mal ist kein Mal, ab morgen wird alles anders, usw. Ist es in Ordnung, die Kolumne zu lesen, sich aber nicht danach zu richten?" Luise O., Bad Homburg

Ihre Frage hat gute Chancen, als Beispiel in die Lehrbücher der Ethik aufgenommen zu werden. Betrifft sie doch ein viel diskutiertes Problem: Reicht als Antrieb für moralisches Verhalten aus, zu erkennen, was richtig und was falsch ist? Oder benötigt man zusätzliche Motive?

Da diese zusätzlichen Motive außerhalb der Moral liegen, nennt man die Position, die sie fordert, Externalismus. Die Gegenposition, der Internalismus, meint dagegen, das aufrichtige (!) Vertreten einer moralischen Überzeugung sei automatisch mit einer entsprechenden Motivation verknüpft. Oder wie der amerikanische Ethiker William K. Frankena formulierte, »die Motivation ist irgendwie in die moralischen Verpflichtungsurteile ›eingebaut‹«. Natürlich werden, wie üblich in der Philosophie, die verschiedensten Zwischenpositionen vertreten und auch die Internalisten behaupten nicht, dass die moralischen Motive immer stark genug sind, um sie in Handlungen umzusetzen.

Insofern wird auch Ihr Fall die Diskussion nicht beenden können, aber Ihre Frage lässt sich beantworten: Selbstverständlich gibt es keine Verpflichtung, sich nach der Gewissensfrage zu richten; schließlich bin ich kein moralischer Gesetzgeber. Schließen Sie sich jedoch meiner Ansicht an und erachten sie als moralisch richtig, sollten Sie auch nicht anders handeln; denn das hieße für Sie, sich unmoralisch zu verhalten.

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Es bleibt jedoch die zweite Frage: Dürfen Sie sich dann trotzdem guten Gewissens an der Kolumne erfreuen? Aber sicher doch. Es mag nicht ideal sein, die Gewissensfrage zu lesen und dann regelmäßig das Gegenteil zu tun, aber noch schlechter wäre, sie nicht einmal zu lesen. Denn insoweit bin ich – um auf den Anfang zurückzukommen – Internalist und glaube, dass die moralische Erkenntnis, die Sie dabei gewinnen, auch Ihre Motivation, danach zu handeln, zumindest ein klein wenig steigert. Und das ist besser als nichts.

Weiterführende Literatur:
William K. Frankena, „Obligation and Motivation in Recent Moral Philosophy (1958) in: Kenneth E. Goodpaster (Hrsg.), Perspecitves on Morality . Essays by William K. Frankena. Notre Dame/London 1976, S. 49-73

Einen guten Überblick über den Gegensatz zwischen Internalismus und Externalismus findet man bei:
- Nico Scarano, Motivation in: Marcus Düwell, Christoph Hübenthal, Micha H. Werner (Hrsg.) Handbuch Ethik, Verlag J.B. Metzler, Stuttgart/Weimar 2002, S. 432-437
- Herlinde Pauer-Studer, Einführung in die Ethik, Facultas Verlag Wien (WUV/UTB) 2003, S. 179 ff.
- Detlev Horster, Was soll ich tun? Moral im 21. Jahrhundert, Reclam Verlag Leipzig 2004, S. 69 ff.

Haben Sie auch eine Gewissensfrage? Dann schreiben Sie an Dr. Dr. Rainer Erlinger, SZ-Magazin, Hultschiner Str. 8, 81677 München oder an gewissensfrage@ sz-magazin.de.

Illustration: Marc Herold