Die Gewissensfrage

Muss man als Rollstuhlfahrerin für eine Behindertenorganisation spenden, oder darf man auch andere Bedürftige bedenken?

»Vor einiger Zeit durfte ich mir als Siegerin eines Gewinnspiels eine Organisation aussuchen, an die dann eine bestimmte Summe Geld gespendet wurde. Ich selbst sitze im Rollstuhl, habe aber keine finanziellen Probleme. Als ich mich schon entschieden hatte, das Geld einer Kinderhilfsorganisation zukommen zu lassen, bekam ich Zweifel: Hätte ich nicht gerade wegen meiner persönlichen Situation eine Behindertenhilfsorganisation auswählen müssen?« Ramona U., Löbau

Natürlich können Sie spenden, ohne die eigene Situation in den Vordergrund zu stellen, war mein erster Gedanke. Im Gegenteil, wenn ich ehrlich bin, musste ich sogar eine Zeit lang darüber nachdenken, woher überhaupt eine Pflicht kommen könnte, entsprechend der eigenen Situation zu spenden.

Tut man das, stößt man auf einen möglichen Grund: Solidarität. Das macht Ihre Frage so interessant: Sie gibt Gelegenheit, über diesen Begriff nachzudenken. Er leitet sich ab aus dem lateinischen »solidus« für dicht, fest. Und tatsächlich beinhaltet er, dass man fest zusammensteht, zusammenhält. Im Allgemeinen empfindet man ihn als positiv besetzt. Er liegt etwa dem Ideal der »Brüderlichkeit« im Kontext der Französischen Revolution zugrunde. Hierzulande kennt man ihn vom oft beschworenen »Solidaritätsprinzip« der Sozialversicherung.

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Bei näherer Betrachtung erweist er sich aber als gar nicht so unproblematisch: Von der Idee her ist man solidarisch mit den Angehörigen der eigenen Gruppe, Klasse oder Gemeinschaft. Das aber widerspricht dem Grundprinzip der modernen Ethik, dass moralische Normen allgemein, universal zu gelten haben, nicht nur zugunsten Nahestehender. Wenn man weiter überlegt, erkennt man, dass die Solidarität sogar eine ausgesprochen negative Seite haben kann, weil man sich meist mit den Nahestehenden gegen andere, Außenstehende solidarisiert, speziell bei Auseinandersetzungen. Solidarität ist hier oft auch nur ein Mittel, die eigene Kampfkraft zu stärken, um eigennützige Ziele zu erreichen.

In vielen Fällen, wenn es nicht darum geht, wäre es deshalb besser, von Gerechtigkeit statt von Solidarität zu sprechen. Was bedeutet das nun für Sie? Nach meinem Verständnis ist man in der Auswahl derjenigen, denen man Gutes tun will, frei. Nach dem Grad der Bedürftigkeit auszuwählen wäre sicher sinnvoll, andererseits kann man dabei auch ruhig seinem Herzen folgen. Und gerade als Mitglied einer benachteiligten Gruppe spricht nichts dagegen, durchaus aus Solidarität auch in diesem Sinne zu spenden – meines Erachtens aber ohne Verpflichtung.

Rainer Erlinger empfiehlt zu diesem Thema:

Kurz Bayertz (Hrsg.), Solidarität. Begriff und Problem, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2. Auflage 1998

Kurt Bayertz, Staat und Solidarität, in: Kurt Bayertz (Hrsg.), Politik und Ethik, Reclam Verlag Stuttgart 1996, S. 305-330

Rainer Zoll, Was ist Solidarität heute? Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2. Auflage 2000

André Comte-Sponville, Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben, Rowohlt Verlag, Reinbeck bei Hamburg 1998, S. 108ff.

Illustration: Marc Herold