Die Gewissensfrage

Wenn ein kleines Kind an der Supermarktkasse ein Überraschungsei zerdrückt, muss die Mutter dann dafür bezahlen?

»Meine Freundin war mit ihrer zwei Jahre alten Tochter kürzlich im Supermarkt. Während sie an der Kasse anstanden, griff die Tochter nach einem der dort platzierten Überraschungseier – und hatte es schon zerdrückt, bevor ihre Mutter eingreifen konnte. Der Kassierer verlangte, meine Freundin solle das Schokoladenei bezahlen, schließlich habe ihre Tochter es kaputt gemacht. Meine Freundin weigerte sich, weil die Süßigkeiten mit Absicht dort aufgebaut seien, um die Kinder zu verführen. Wer hat recht?« Markus K., Rosenheim

Auch wenn das hier keine Kolumne für Rechtsprobleme ist, scheint es sinnvoll, zunächst einen Blick auf die Rechtslage zu werfen. Vielleicht für manche überraschend, besteht von dieser Seite her nicht unbedingt eine Verpflichtung, das kaputte Ei zu bezahlen. Die Tochter ist noch zu klein, um selbst zu haften, und entgegen der weitverbreiteten These »Eltern haften für ihre Kinder« tun sie das nicht automatisch, sondern nur, wenn sie ihre Aufsichtspflicht verletzen. Das ist aber nicht schon immer dann der Fall, wenn das Kind nach etwas greift; Aufsichtspflicht bedeutet nämlich nicht, sein Kind zu fesseln. Zu locker handhabt es sicherlich, wer sein zweijähriges Kind im Gang mit den Süßigkeiten zurücklässt, mit nichts anderem als der Aufforderung, brav zu bleiben. Jedoch kann selbst bei bester Aufsicht ein Kind an der Kasse eine Süßigkeit greifen und zerdrücken – allerdings erst recht, wenn man ihm alles durchgehen lässt.

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Bei der moralischen Bewertung würde ich mich lieber an der Widerspruchsfreiheit orientieren. Süßigkeiten im Kassenbereich hängen so, dass Kinder sie sehen und auch greifen können und die Eltern auf ihre sonnige kindliche Art davon überzeugen, sie behalten zu dürfen – daher der Ausdruck »Quengelware«. Die Einzelhändler wissen genau, dass Eltern diese Situation gern vermeiden würden, es ihnen aber häufig nicht gelingt. Der erwünschte und beabsichtigte Verkaufserfolg hängt also auch daran, eine Konstellation zu schaffen, in der Kinder sich teilweise der Aufsicht entziehen können. Dann wäre es jedoch höchst widersprüchlich, den Eltern vorzuwerfen, dass sie ihrer Aufsichtspflicht nicht ausreichend nachgekommen sind und deshalb für Schäden bezahlen sollen. Und ganz im Sinne Kants soll beim moralischen Handeln ein Wille nicht mit sich selbst im Widerspruch sein. Insofern hat sich Ihre Freundin auch in moralischer Hinsicht zu Recht geweigert zu bezahlen.

Nun könnte man freilich entgegnen, dass eine derartige Strategie des Einzelhändlers keineswegs widersprüchlich ist, sondern im Gegenteil höchst logisch und schlicht trickreich, um nicht zu sagen: tückisch. Doch würde ich mich erstens hüten, dem Einzelhandel Derartiges zu unterstellen, und zweitens wäre diese Kolumne nicht der Ort, an dem solch Vorgehen moralische Unterstützung erhielte.

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Quellen:

Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie Ausgabe S. 437

Im Wortlaut heißt es dort: „Wir können nunmehr da endigen, von wo wir im Anfange ausgingen, nämlich dem Begriffe eines unbedingt guten Willens. Der Wille ist schlechterdings gut, der nicht böse sein, mithin dessen Maxime, wenn sie zu einem allgemeinen Gesetze gemacht wird, sich selbst niemals widerstreiten kann. Dieses Princip ist also auch sein oberstes Gesetz: handle jederzeit nach derjenigen Maxime, deren Allgemeinheit als Gesetzes du zugleich wollen kannst; dieses ist die einzige Bedingung, unter der ein Wille niemals mit sich selbst im Widerstreite sein kann, und ein solcher Imperativ ist kategorisch. Weil die Gültigkeit des Willens als eines allgemeinen Gesetzes für mögliche Handlungen mit der allgemeinen Verknüpfung des Daseins der Dinge nach allgemeinen Gesetzen, die das formale der Natur überhaupt ist, Analogie hat, so kann der kategorische Imperativ auch so ausgedrückt werden: handle nach Maximen, die sich selbst zugleich als allgemeine Naturgesetze zum Gegenstande haben können. So ist also die Formel eines schlechterdings guten Willens beschaffen.“

Bürgerliches Gesetzbuch BGB § 828 Minderjährige
(1) Wer nicht das siebente Lebensjahr vollendet hat, ist für einen Schaden, den er einem anderen zufügt, nicht verantwortlich.
(2) Wer das siebente, aber nicht das zehnte Lebensjahr vollendet hat, ist für den Schaden, den er bei einem Unfall mit einem Kraftfahrzeug, einer Schienenbahn oder einer Schwebebahn einem anderen zufügt, nicht verantwortlich. Dies gilt nicht, wenn er die Verletzung vorsätzlich herbeigeführt hat.
(3) Wer das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, ist, sofern seine Verantwortlichkeit nicht nach Absatz 1 oder 2 ausgeschlossen ist, für den Schaden, den er einem anderen zufügt, nicht verantwortlich, wenn er bei der Begehung der schädigenden Handlung nicht die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht hat.

§ 832 Haftung des Aufsichtspflichtigen
(1) Wer kraft Gesetzes zur Führung der Aufsicht über eine Person verpflichtet ist, die wegen Minderjährigkeit oder wegen ihres geistigen oder körperlichen Zustands der Beaufsichtigung bedarf, ist zum Ersatz des Schadens verpflichtet, den diese Person einem Dritten widerrechtlich zufügt. Die Ersatzpflicht tritt nicht ein, wenn er seiner Aufsichtspflicht genügt oder wenn der Schaden auch bei gehöriger Aufsichtsführung entstanden sein würde.
(2) Die gleiche Verantwortlichkeit trifft denjenigen, welcher die Führung der Aufsicht durch Vertrag übernimmt.

Illustration: Marc Herold