»Gestern bekam ich die Zusage für ein dreimonatiges Praktikum in Shanghai. Da ich letztes Jahr schon drei Monate weg war, war meine Freundin mäßig begeistert. Ich finde aber, dass es für einen BWL-Studenten wichtig ist, Auslandserfahrung zu sammeln. Ist es meine moralische Pflicht, aus Liebe zu meiner Freundin darauf zu verzichten, um die Beziehung nicht zu gefährden?« Helmut B., Nürnberg
Beim Thema »Liebe« denkt man sicherlich nicht als Erstes an ihn, wohl aber bei der »Pflicht«: Immanuel Kant. Und tatsächlich hat er über den Zusammenhang zwischen Liebe und Pflicht geschrieben. Jedoch über den umgekehrten Fall, dass nämlich, weil Liebe eine Sache der Empfindung und nicht des Wollens sei, man nicht lieben könne, weil man es wolle, geschweige denn, weil man es solle, »mithin ist eine Pflicht zu lieben ein Unding«.
Direkt mit dem Handeln »aus Liebe« beschäftigte sich der amerikanische Philosoph Harry G. Frankfurt, der hierzulande vor allem durch sein kleines Büchlein Bullshit bekannt wurde. Er sieht in der Liebe einen Handlungsgrund, der gleichberechtigt neben dem moralischen Gesetz steht, aber eben getrennt von ihm. Das Besondere daran, so Frankfurt, sei: Handle man aus echter Liebe, so handle man, auch wenn man sich von den Fesseln der Liebe gebunden fühle, im Gegenteil frei und autonom, weil die Liebe, der man gehorcht, zum grundlegenden Charakter des eigenen Willens gehört und man somit nur von sich selbst bestimmt wird.
Bei beiden Philosophen würde ich einhaken wollen. So wie Kant eine Pflicht zu lieben ein Unding nennt, scheint mir umgekehrt eine Pflicht »aus Liebe« auch ein Unding. Damit soll nicht gemeint sein, dass man in einer Liebesbeziehung tun und lassen kann, was man will, aber etwas aus Liebe zu tun, weil man die Pflicht dazu hat, scheint mir ein Widerspruch. Wenn man etwas »aus Liebe« tut, tut man es, auch im Sinne Frankfurts, freiwillig und nicht aufgrund einer moralischen Pflicht.
Obwohl es mir fern läge, Liebe dem Karrieredenken unterzuordnen, sprechen für mich vor diesem Hintergrund zwei Gründe dagegen, auf das Praktikum zu verzichten. Zum einen sollten Sie, wenn es denn »aus Liebe« geschieht, den eigenen Wunsch haben, dazubleiben und nicht eine Pflicht annehmen, der Sie sich dann fügen. Zum anderen sollte eine Beziehung nicht beengen, sondern zu gemeinsamem Wachsen führen. Das wiederum passt zu Frankfurts Idee, dass das Handeln aus Liebe ein autonomes ist, man also aus sich selbst heraus handelt – selbst wenn es zugunsten des anderen ist. Zu guter Letzt: Dank Internet kann man sich heute beliebig lange und oft per Video sehen und sprechen, und drei Monate sind keine Ewigkeit.
Quellen:
Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, AA Band VI, S. 401.
Dort heißt es wörtlich:
„Liebe ist eine Sache der Empfindung, nicht des Wollens, und ich kann nicht lieben, weil ich will, noch weniger aber weil ich soll (zur Liebe genöthigt werden); mithin ist eine Pflicht zu lieben ein Unding. Wohlwollen ( amor benevolentiae ) aber kann als ein Thun einem Pflichtgesetz unterworfen sein. Man nennt aber oftmals ein uneigennütziges Wohlwollen gegen Menschen auch (obzwar sehr uneigentlich) Liebe; ja, wo es nicht um des andern Glückseligkeit, sondern die gänzliche und freie Ergebung aller seiner Zwecke in die Zwecke eines anderen (selbst eines übermenschlichen) Wesens zu thun ist, spricht man von Liebe, die zugleich für uns Pflicht sei. Aber alle Pflicht ist Nöthigung, ein Zwang, wenn er auch ein Selbstzwang nach einem Gesetz sein sollte. Was man aber aus Zwang thut, das geschieht nicht aus Liebe.“
Die Metaphysik der Sitten ist in verschiedenen Ausgaben erhältlich, zum Beispiel in der Reihe der Universal-Bibliothek Nr. 4508 im Reclam Verlag Stuttgart 1990, dort S. 279.
Online abrufbar unter: http://www.korpora.org/kant/aa06/401.html
Harry G. Frankfurt, Autonomy, Necessity, and Love, in: Harry G. Frankfurt, Necessity, Volition, and Love, Cambridge University Press, 1998, S. 129-141.
Auf deutsch: "Autonomie, Nötigung und Liebe", in: Harry G. Frankfurt, Freiheit und Selbstbestimmung. Ausgewählte Texte, herausgegeben von Monika Betzler und Barbara Guckes, Akademie Verlag, Berlin 2001, S. 166-183.
Harry G. Frankfurt, Bullshit, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006, im englischen Original: Harry G. Frankfurt, On Bullshit, Princeton University Press, 2005.
Weiters lesenswert zum Thema:
Axel Honneth, "Liebe und Moral. Zum moralischen Gehalt affektiver Bindungen", in: Axel Honneth, Das Andere der Gerechtigkeit, Aufsätze zur praktischen Philosophie, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2000
Illustration: Serge Bloch