Die Gewissensfrage

Zum Geburtstag bekam unser Leser von einem Freund ein Abo für eine Fußballzeitschrift. Seitdem fragt letzterer ihn regelmäßig daraus ab. Muss er wirklich alle Artikel lesen?

»Ein Freund und begeisterter Fußballkenner schenkte mir zum Geburtstag das Jahresabo einer Fußballzeitschrift. Wenn wir uns treffen, hat er nun die Angewohnheit, die Artikel der letzten Ausgaben ›abzufragen‹. Ich interessiere mich für Fußball, wohl aber nicht in dem Maße wie mein Freund. Muss ich mich trotzdem in Zukunft vorbereiten?« Hannes L., Dresden

Ihr Fall hat das Potenzial, Aufnahme in die soziologische Literatur zu finden. Seit Marcel Mauss’ Klassiker Die Gabe beschäftigt sich diese Wissenschaft unter anderem mit dem Austausch von Geschenken und sieht darin eine der Grundlagen der Gesellschaft. Kernpunkt ist das Prinzip der Reziprozität, also Gegenseitigkeit, das besagt, dass eine Gabe eine Gegengabe erfordert und so Bindungen auch gesellschaftlicher Art erzeugt.

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So weit nicht viel Neues, bei Ihnen aber tritt ein zusätzlicher Aspekt zutage. Durch das Geschenk sind neben der Verpflichtung zum Gegengeschenk weitere Bindungen entstanden - und zwar beiderseits: Offenbar erwartet Ihr Freund, und Sie fühlen sich ihm gegenüber irgendwie dazu verpflichtet, dass Sie beide sich über das Geschenk näherkommen; in diesem Fall: indem Sie sich über seinen Inhalt, das gemeinsame Interessensgebiet Fußball, austauschen. Freundschaft und Geschenk treten in Wechselwirkung. Der amerikanische Anthropologe Marshall D. Sahlins erblickt darin eine besondere Form der Reziprozität zwischen Gütern, den Geschenken, und sozialen Beziehungen: »Wenn Freunde Geschenke machen, so machen auch Geschenke Freunde.«

Müssen Sie sich deshalb in Zukunft auf die Treffen vorbereiten? Nein. Die Soziologie beobachtet nur, sie sagt aber nicht, was richtig oder falsch ist. Moralisch gesehen ist Freundschaft kein geeignetes Feld für Tauschökonomie, und ein Geschenk sollte primär erfreuen. Wenn Ihr Freund Sie tatsächlich über das Geschenk dazu verpflichten wollte, seine Begeisterung zu teilen, oder eine größere Nähe gewissermaßen erkaufen möchte, verdient er keinen Schutz. Und bei einer echten Freundschaft sollte es Ihnen Ihr Freund nicht übel nehmen, wenn Sie ganz offen sagen, dass Sie sich an den Inhalt nicht mehr so genau erinnern können oder nicht zum Lesen gekommen sind.

Literatur:

Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 9. Auflage 1990.

Einen sehr guten Überblick über das Themengebiet bietet die von Frank Adloff und Steffen Mau herausgegebene Textsammlung Vom Geben und Nehmen. Zur Soziologie der Reziprozität, Campus Verlag, Frankfurt am Main 2005.

Darin finden sich unter anderem auch Auszüge von wichtigen Stellen aus Marcel Mauss’ Die Gabe (S. 61-72).

Hervorragend aber auch die von den beiden Herausgebern verfasste Einführung „Zur Theorie der Gabe und Reziprozität mit vielen weiteren Literaturhinweisen (S. 9-57).

Für das hier interessierende Phänomen insbesondere: Marshall D. Sahlins, Zur Soziologie des primitiven Tauschs S. 73-91.

Daneben:

Georg Simmel: Exkurs über Treue und Dankbarkeit, S. 95-108, aus: Georg Simmel, Soziologie. Untersuchung über die Formen der Vergesellschaftung, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1992, S. 652-670.
Alvin W. Gouldner: Etwas gegen nichts. Reziprozität und Asymmetrie, S. 109-123 Peter M. Blau: Sozialer Austausch, S. 125-137.

Illustration: Serge Bloch