Das Problem: In Krankenhäusern herrscht oft ein gewaltiger Lärm, worunter nicht nur die Patienten leiden, sondern auch das Personal.
Die Lösung: Heilende Klänge statt Nonstop-Alarm.
Eines der Dinge, die mir an der erzwungenen Corona-Quarantäne gut gefallen, ist die Stille: Kaum ein Flugzeug am Horizont, höchstens ein Drittel der Autos fahren vorbei, stattdessen höre ich mehr Vogelgezwitscher, Kinderstimmen, Blätterrauschen. Die Pandemie hat aber auch einen anderen, alarmierenden Sound: Notarzt-Sirenen, das Piepen der Atemmonitore, das Pumpen von Ventilatoren.
Kaum jemand, der einen geliebten Menschen in einem normalen Krankenhaus verloren hat, wird das harsche Biep-biep-biiiiiiep vergessen, wenn der Herzschlag aus dem Rhythmus gerät und aussetzt. Der grelle Herzmonitor-Alarm sei der »Soundtrack meines Lebens«, sagt Yoko Sen. Die Musikerin kreiert hauptberuflich synthetische Klangwelten und spielt Klavier, seit sie drei Jahre alt ist. 1999 zog sie von Japan nach Amerika und tourte mit ihrer Elektro-Band Dust Galaxy. Aber als sie 2012 schwer erkrankte und immer wieder mehrere Wochen im Krankenhaus verbringen musste, fand sie die Lärmkulisse mit ihrem sensiblen Gehör schwer erträglich. »Die Kakophonie an Alarmtönen, das Piepsen, Türschlagen, das Quietschen der Karren, das Schreien der Leute, gelber Alarm, roter Alarm, Code Blue – ich empfand das als Folter.«
Sen war an vier verschiedene Maschinen angeschlossen, jede gab einen anderen Ton von sich. Vor allem ein Herzmonitor piepte unaufhörlich. »Ein hohes C tönte dabei, und immer wieder ging ein schriller Hochfrequenzton los, ein Fis, als wollten die Klänge meine Angst und mein Gefühl der Hilflosigkeit noch verstärken.« In der Lärmkulisse erkannte Sen den sogenannten Tritonus, ein von vielen als unschön empfundenes Ton-Intervall, das man im Mittelalter das »Teufelsintervall« nannte und in Kirchen verbot. Jimi Hendrix steigt damit in »Purple Haze« ein, Beethoven läutet so die Kerkerszene in Fidelio ein, und Filmkomponisten nutzen es gerne, wenn sie drohendes Unheil ankündigen wollen. Was haben solche Töne im Krankenhaus zu suchen?
Als Sen die Krankenschwester fragte, warum ihr Herzmonitor immer piepe, was denn nicht stimme, beschied ihr die Schwester, der piepe eben immer, das sei kein Grund zur Besorgnis. »Dem Sound wird im Gesundheitswesen einfach keine Aufmerksamkeit geschenkt, obwohl Klänge einen enormen Einfluss auf unser Wohlbefinden und unsere Würde haben«, sagt Sen. »Wir haben erstaunliche Fortschritte in der Medizin-Technologie gemacht, wir können Gehirne operieren, aber warum müssen wir im Krankenbett immer noch mit diesen mittelalterlichen Tönen leben? Wenn ich die Leute darauf anspreche, fassen sie sich fast immer an den Kopf: Mensch, warum haben wir daran bisher nicht gedacht?«
Lange war nicht klar, ob Sen wieder vollkommen gesund würde. Manche Leute glauben, unser Hörsinn sei der letzte Sinn, der uns vor dem Tod verlässt. Sen dachte an ihre Großmutter, die umringt von piependen Monitoren starb, und fragte sich: »Was ist das letzte, was ich in meinem Leben hören möchte?«
Als Sen wieder genesen war, machte sie es zu ihrer Mission, die Krankenhaus-Erfahrung durch Transformation der dortigen Klangwelt zu »vermenschlichen«. Aber wie klingt eigentlich Heilung? Wie klingt Liebe? Gibt es Töne, die Gesundheit fördern? 2015 gründete Sen SenSound, um vor allem drei Projekte anzugehen:
- die Töne von medizinischen Apparaten zu harmonisieren
- Ruhebereiche für Krankenhauspersonal zu schaffen
- Klang besonders für Palliativmedizin zu optimieren
Sen tat als erstes, was Musiker besonders gut können: hinhören. Sie und ihr Mann Avery Sen, ein Innovationsforscher, sprachen mit Hunderten von Patienten, Krankenpflegern und Ärztinnen. Bei der Recherche wurden ihr mehrere Dinge klar:
Erstens, dass die Kakophonie nicht nur lästig, sondern lebensgefährlich sein kann. Krankenhäuser sind oft lauter als der Mittlere Ring zur Hauptverkehrszeit, im Durchschnitt hört ein Patient im Krankenhaus 113 verschiedene Alarmtöne am Tag. Viele Pfleger und Ärzte leiden deshalb unter »Alarm-Müdigkeit«, das Ergebnis des ständigen Alarms ist genau das Gegenteil des Gewünschten: Abgestumpftheit. Ein Arzt gestand Sen: »Ich hatte immer das Gefühl, ich dürfte nicht zugeben, dass ich diese Töne nicht ausstehen kann.«
Zweitens, dass die Hersteller von medizinischen Geräten sich nicht absprechen und aus Angst vor Gerichtsverfahren einen Alarm lieber laut und schrill anlegen als sanft und verträglich. »Sie konkurrieren miteinander, die Sicherheit und Funktionalität haben Priorität, und das ist auch okay – aber der Hersteller des Herzmonitors denkt nicht daran, wie sich die Töne auf die Emotionen und Erfahrungen der Patienten auswirken oder ob sich seine Alarmtöne mit dem Piepen der IV-Pumpe beißen.« Inzwischen arbeitet sie mit vier Herstellern von Medizingeräten daran, die Klangharmonie zu verbessern. »Was, wenn wir die Menschen am Design beteiligen, die diese Töne jeden Tag hören müssen, wie Pfleger und Patienten?« Sie nennt das den Dialog zwischen »den Piepern und den Gepiepten« und zitiert Florence Nightingale, die Mutter der modernen Krankenpflege: »Unnötiger Lärm ist die grausamste Art von fehlender Fürsorge, die man Kranken oder Gesunden zufügen kann.«
Und drittens, dass jeder Töne anders wahrnimmt. »Einen Mann störte das Gespräch der Schwestern auf dem Gang; seine Frau liebte es, weil sie sich dadurch weniger einsam fühlte. Manche fühlen sich in kompletter Stille am wohlsten, andere fühlen sich dadurch alleingelassen. Stille kann das lauteste Geräusch sein, es ist nicht nur eine Frage des Volumens.« Aber eines wirkt auf fast alle Menschen beruhigend, egal ob Sen Menschen in Amerika, Brasilien, Israel oder Europa fragte: Naturklänge, etwa Meeresrauschen. Gerade für Palliativpatienten gestaltet sie deshalb Klangwelten, die der Patient selbst beeinflussen kann. Einfache Handbewegungen genügen, und Bewegungssensoren übersetzen eine Wischbewegung in ein Meeresrauschen oder ein Hochheben der rechten Hand in eine kleine Symphonie. Sens Kompositionen klingen wie Wasserfälle oder Regentropfen, wie ein Glockenspiel oder ein Dschungel im Wind.
Trommeln für den Herzschlag, Gitarrenklänge als Indikator für die Sauerstoffversorgung und Klavier für den Blutdruck: Wenn ein Patient stabil ist, klingt es harmonisch und beruhigend; geraten Werte außer Kontrolle, werden die Klänge dissonant.
Sen und ihr Mann haben mit renommierten Partnern zusammengearbeitet, als erstes mit Johns Hopkins Kliniken, später mit Stanford, letztes Jahr mit dem Vanderbilt University Medical Center, zwischendurch war sie Artist-in-Residence bei Kaiser Permanente und Fellow am Kennedy Center. Im Sibley Memorial Hospital in Washington, das zu Johns Hopkins gehört, richtete sie einen »Ruheraum« in Erdtönen ein. Rückzugsräume gibt es in vielen Kliniken, aber Sen kooperierte mit Innenarchitekten, Künstlern und vor allem mit den Krankenhausmitarbeitern, um den Raum zu einem echten »Erholungsgebiet« zu machen. Sie fragte: Was sind Töne, derer ihr nie müde werdet? Was ist der unangenehmste Klang? Wie klingt der Tod? Und welchen Sound würden Sie gerne am Ende Ihres Lebens hören?
»Klang sollte ein öffentliches Gut sein, wie Hygiene oder Sicherheit«, fordert Sen. Ihr Ziel: Die Töne sollen funktional und sicher sein, aber auch freundlich und respektvoll für Menschen, die gerade eine sehr verletzliche Zeit durchmachen.
Sie fand Gleichgesinnte, etwa Elif Ozcan, die Leiterin des Critical Alarms Lab an der Delft University of Technology in den Niederlanden und Joel Schlesinger, der nicht nur ein versierter Jazzpianist ist, sondern im Hauptberuf Anästhesist an der Vanderbuilt Universität. »Wir arbeiten zusammen, denn Menschen könnten sterben, wenn wir Fehler machen, also müssen Menschen aus verschiedenen Bereichen kooperieren«, sagt Sen. »Ich verstehe mich als Brücke. Kann ich Klänge kreieren, die ihre Funktion erfüllen, aber als weniger harsch empfunden werden?« Eines ihrer Gemeinschaftsprojekte namens CareTunes nutzt Trommeln für den Herzschlag, Gitarrenklänge als Indikator für die Sauerstoffversorgung und Klavier für den Blutdruck: Wenn ein Patient stabil ist, klingt es harmonisch und beruhigend; geraten Werte außer Kontrolle, werden die Klänge dissonant, um die Pfleger zu alarmieren.
Die Pandemie hat das Interesse an ihrer Arbeit einerseits verstärkt, weil sich unsere Aufmerksamkeit nun noch mehr darauf richtet, wie unwürdig das Leiden und Sterben in Krankenhäusern gerade ohne die Anwesenheit von Angehörigen oft ist. Andererseits aber wurden auch einige Projekte auf Eis gelegt, weil wichtige Partner mit der Pandemie alle Hände voll zu tun haben. Eigentlich sollte sie jetzt eine Ausstellung über das Lebensende in den Niederlanden am Cube Design Museum begleiten und dann in Deutschland an einem Projekt arbeiten. Stattdessen sitzt sie in ihrem Häuschen außerhalb von Washington DC und vervollständigt ihr Projekt The Last Sound. Dafür reiste sie um die halbe Welt und fragte Menschen, welchen Klang sie als letztes hören wollten, bevor sie diesen Planeten verlassen. Diese Töne nimmt sie dann auf. Viele wünschen sich Naturklänge, Kinderlachen oder die Stimme eines geliebten Menschen.
Welchen letzten Ton wünscht sie sich selbst? Darauf lacht Yoko Sen und zögert, gibt aber dann doch zu, was sie aufgenommen hat: das Furzen ihres Mannes. »Er furzt viel, das ist ein vertrauter Klang für mich, und das bringt mich zum Lachen. Es ist ein Klang, der für mich Normalität darstellt, und es ist auch wenig egoistisch von mir, weil mich der Klang daran erinnert, dass ich vor ihm gehe. Wenn das der letzte Ton ist, den ich höre, und ich lachend aus dem Leben gehe, wäre das für mich eine schöne Vorstellung.«
Aber bis es soweit ist, setzt sie hinzu, kann sich ihr Wunschton auch schon wieder geändert haben.