Ist es radikal, immer und offen zu sagen, was man denkt?

Im Internet zeigen Menschen ihre Wut, beleidigen und verletzen andere. Aber hat Ehrlichkeit vielleicht mehr damit zu tun, sich selbst verletzlich zu zeigen, als andere zu verletzen?

Foto: Paula Winkler

Als Frau, die regelmäßig von aufgebrachten Männern Vergewaltigungsdrohungen und andere Nettigkeiten zugeschickt bekommt, muss ich ziemlich verrückt sein, radikale Ehrlichkeit für ein gutes Konzept zu halten. Denn wenn man den Ausspruch »Das wird man ja wohl noch sagen dürfen« für eine Aufforderung hält, miteinander ehrlich zu sein, würde ich ja im politischen Diskurs auf die Varianten der Ehrlichkeit eigentlich viel lieber verzichten, die darauf folgen. Sollte ich als diese ständig Drohungen ausgesetzte Frau nicht klugerweise an das appellieren, was wir als Kinder lernen? Also: Rücksicht aufeinander zu nehmen, andere nicht bewusst zu verletzen oder zu beleidigen und auch diejenigen mitspielen zu lassen, die nicht unsere besten Freunde sind. Vielleicht. Ich bin trotzdem dafür, dass wir ehrlicher miteinander sind.

Statements wie »Ich hasse Greta« und »Ich finde, die olle Feministin muss nur endlich mal wieder durchgevögelt werden« haben rein gar nichts mit Ehrlichkeit zu tun. Daher bringt es auch nichts, diesen wütenden Menschen zuzuhören. Denn man erfährt wenig darüber, was sie wirklich denken und fühlen. Wer gemütlich mit einem kalten Bier in seiner Wohnung sitzt und Artikel zum Klimaschutz kommentiert, hat keinen einzigen plausiblen Grund, eine Schülerin zu hassen, die etwas gegen die Erderhitzung tun möchte. Genauso wenig profitiert nur ein einziger Wutredner davon, dass eine Feministin Sex hat – außer in dem sehr unwahrscheinlichen Fall, es wäre mit ihm. Wenn man beim Feministinnen-Hasser einmal näher nachfragen würde, was ihn den ganzen Tag beschäftigt und was ihm wichtig ist, würde er sicher nicht sagen, es sei ihm ein Anliegen, dass politisch engagierte Frauen regelmäßig zum Orgasmus kommen. Hinter Hass und Beleidigungen versteckt sich keine Ehrlichkeit. Daher glaube ich auch nicht, dass die so genannte »radikale Ehrlichkeit« dazu führen würde, dass Menschen einander persönlich sowie im Internet vor allem mehr gemeine Dinge an den Kopf werfen würden.

Wie erkenntnisreich doch plötzlich die Talkshows und die Kommentarspalten im Netz wären, würden Menschen beginnen, miteinander ehrlich zu sein

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Ehrlichkeit hat viel mehr damit zu tun, sich selbst verletzlich zu zeigen, als andere zu verletzen. Sie hat nichts mit Schreien zu tun, sondern mit Reflexion darüber, was wir gerade fühlen, warum wir etwas denken und wie wir das anderen verständlich machen können. Wer darum bemüht ist, immer offen und ehrlich zu sein, hält vermutlich zunächst viel öfter die Klappe und grübelt stattdessen. Denn es ist viel schwieriger auszudrücken, was wirklich in uns vorgeht, als das zu sagen, was uns als Erstes einfällt. Wäre es anders, bräuchte man wohl viel seltener den Satz »Das hab ich nicht so gemeint«. Gerade in eskalativen Streitsituationen ist es wohl eher so, dass wir den anderen verletzen oder auf jeden Fall im Recht sein wollen, miteinander ehrlich zu sein aber eine untergeordnete Rolle spielt.

Um Gefühle wie Traurigkeit oder Enttäuschung einer anderen Person gegenüber verständlich zu machen, muss man sich zunächst selbst befragen und sich daran erinnern können, welche Situationen, welche Verhaltensweisen oder Worte die eigene Reaktion beeinflusst haben. Damit ist die radikale Ehrlichkeit, wie ich sie verstehe, sehr nah an der gewaltfreien Kommunikation nach Marshall Rosenberg, in der Menschen im Gespräch miteinander beschreiben sollen, was sie beobachtet haben, welches Gefühl diese Handlung in ihnen auslöste, welches Bedürfnis hinter diesen Gefühlen steht und um welche alternative Handlung man die andere Person anschließend bittet. Ein ehrlicher Greta-Hasser könnte demnach sagen: »Ich habe beobachtet, dass das Mädchen in der ganzen Welt bejubelt wird. Ich habe mich traurig gefühlt, weil mir schon lange niemand mehr Wertschätzung entgegengebracht hat, und ich habe gehofft, dass wenigstens meine Hass-Kommentare im Internet von anderen Zustimmung bekommen.« Vielleicht ist es das, was uns daran hindert, radikal ehrlich zu sein: Es klingt naiv, offenbart eine eigene Unzulänglichkeit und macht maximal verletzlich.

Wie erkenntnisreich doch plötzlich die Talkshows und die Kommentarspalten im Netz wären, würden Menschen beginnen, miteinander ehrlich zu sein. Denn auch menschenfeindliche Einstellungen wie Rassismus oder Frauenfeindlichkeit würden endlich so klar formuliert, dass wir uns die zähen Diskussionen darüber sparen könnten, wie bösartig etwas tatsächlich gemeint war. Hinter dem Hass stecken eben manchmal einfach Hass oder Vorurteile. »Ich möchte nicht mit Frauen zusammenarbeiten, weil ich sie grundsätzlich für inkompetent halte und mich wohler in einer reinen Männergruppe fühle« wäre dann die ehrliche Variante von »Wir haben keine qualifizierte Frau für den Vorstand finden können«. Vielleicht wäre die ehrliche Variante aber auch: »Wenn Frauen dazukommen, muss ich mich verändern in der Art, wie ich rede, sie haben bestimmt neue Ideen, die mich fordern, verändern die Kultur, die mir bisher genutzt hat, womöglich sind sie sogar besser als ich.«

Was der Schalke-Chef Clemens Tönnies mit seiner Äußerung über Afrikaner wirklich sagen wollte, denken Sie sich bitte an dieser Stelle bitte selbst.

Die Radikalität liegt also darin, uns darüber klar zu werden, welche Gefühle und Einstellungen hinter dem liegen, was wir als unseren ersten, ehrlichen Gedanken missverstehen. Es wäre radikaler, viel öfter innezuhalten, als etwas vorschnell zu sagen. Wir würden uns selbst besser verstehen, und die anderen uns besser. Und wenn wir wissen, was wir wirklich sagen wollen, dann raus damit.