Ist es radikal, das Land sein zu wollen, das in uns steckt?

Die Deutschen denken progressiver und sind weltoffener, als die Regierung uns oft glauben lässt: Sie zeigen Solidarität, Hilfsbereitschaft und Akzeptanz von Diversität, beobachtet unsere Kolumnistin. Doch um diese Werte auch leben zu können, bräuchte es endlich die passende Politik. 

Foto: Paula Winkler

Im Wahlprogramm der FDP findet sich ein bemerkenswerter Satz, der mich nicht losgelassen hat, seitdem ich ihn vor ein paar Wochen das erste Mal gelesen haben: »Werden wir das Land, das in uns steckt.« Diesen Satz kann jede*r auf eigene Weise verstehen. Je nach Gefühlslage kann er zu zivilem Engagement motivieren, er kann Zynismus verstärken oder zunächst einmal anstoßen, darüber nachzudenken, was man eigentlich mit dem Land verbindet, in dem man lebt. Die FDP bezieht diesen Satz auf wirtschaftliche Modernisierung und »harte Arbeit«. Mir fiel er wieder ein, als vergangene Woche klar wurde, dass die Taliban in Afghanistan die Macht übernehmen werden und noch mehr Afghan*innen werden flüchten müssen, um ihr Leben zu retten. Denn die Aufforderung, ein anderes Land zu werden, als Deutschland es gerade ist, prallte aufeinander mit einem anderen Satz, der gerade viel zitiert wurde: »2015 darf sich nicht wiederholen.« Noch so ein Satz, den man ganz unterschiedlich verstehen kann. Mir stieß diese Formulierung, mit der Armin Laschet vor die Presse trat, aus mehreren Gründen auf.

Es ist keine angemessene erste Reaktion auf die Gefahr, der viele Menschen jetzt in Afghanistan ausgesetzt sind, ihre mögliche Flucht gegenüber den deutschen Bürger*innen als zu verhindernde Zumutung darzustellen. Die Gewichtung der Sorge lässt Zweifel daran, wie groß die Solidarität gegenüber den Menschen in Afghanistan tatsächlich ist und wie viel Verantwortung Deutschland für die aktuelle Situation übernehmen will.

Außerdem finde ich es vermessen und für die politische Rhetorik fatal, eine Jahreszahl aufladen zu wollen mit einer einzigen Bedeutung, denn auf diese Weise verwischt man all das, was Millionen unterschiedlicher Menschen in diesem Jahr gefühlt und erlebt haben. Die Deutungshoheit über ein Jahr auf diese Weise an sich zu ziehen geschieht vielleicht in der Absicht, sich staatsmännisch zu geben und einen klaren Weg vorzuzeichnen, aber diese Haltung wird der Komplexität der Welt nicht gerecht. Das Jahr 2015 lässt sich nicht eindeutig einem Ereignis und einer politischen Lesart zuordnen. Gute politische Kommunikation jedoch sollte möglichst präzise sein und niemanden im Unklaren darüber lassen, was gemeint ist, um sich als Politiker*in später an den eigenen Aussagen messen lassen zu können. Wer nun den Satz nutzt, 2015 dürfe sich nicht wiederholen, wird später ausweichen können und immer wieder neu behaupten können, was damit gemeint war. Diese Taktik kennt man von Armin Laschet mittlerweile gut: Wann immer Journalist*innen ihn nach konkreten Plänen fragen, weicht er aus, vertröstet und verweist darauf, dass er zu gegebener Zeit darüber nachdenken werde.

Meistgelesen diese Woche:

Die Hilfsbereitschaft in diesem Jahr war das, was man im Rückblick als überwältigend bezeichnen kann

Ein weiterer Kritikpunkt an diesem Satz ist, dass sie als Entwertung des Engagements all der Menschen verstanden werden kann, die sich seit 2015 neu oder weiter für geflüchtete Menschen eingesetzt haben. Eine Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach für das Bundesfamilienministerium hat erhoben, dass von 2015 bis 2017 mehr als die Hälfte der in Deutschland lebenden Menschen dazu beigetragen haben, eine Willkommenskultur für Geflüchtete zu schaffen, indem sie neu angekommene Menschen direkt unterstützten, sich öffentlich für die Aufnahme von Geflüchteten aussprachen oder mit Geld- oder Sachspenden halfen. Auch viele Kirchengemeinden sind und waren in der Flüchtlingshilfe engagiert. Die Hilfsbereitschaft in diesem Jahr war das, was man im Rückblick als überwältigend bezeichnen kann. In Deutschland steckte 2015 ein Land, das die Aufgabe, Menschen aufzunehmen und sie die erste Strecke ihres Neuanfangs zu begleiten, annehmen wollte und auch bewältigte. Warum sollten wir nicht wiederholen wollen, gemeinsam so viel zu schaffen?

Als Politiker*in könnte man eigentlich stolz sein darauf, dass zivilgesellschaftliches Engagement für geflüchtete Menschen ein fester Bestandteil des Alltags in Deutschland ist. Mit dem Satz »2015 darf sich nicht wiederholen« hingegen macht man sich klein: als Politiker*in und als Land. Denn wer über diesen Satz ein Signal an die Wähler*innen senden will, die Menschen aus Afghanistan, Syrien, dem Irak, Somalia oder Nigeria ablehnen, die glauben, diese Menschen hätten kein Asyl und keine Sicherheit verdient, der bedient eine von Ressentiment und Rassismus getriebene Angst, von der er glaubt, er könne ihr politisch nichts entgegensetzen. Der traut dem eigenen Land nicht zu, solidarisch, empathisch und anpackend zu sein. Man kann nicht weltoffen sein wollen und sich dann verschließen.

Im September 2015 richteten die Bischöfe ein Schreiben an die Katholik*innen in Deutschland, in dem stand: »Aber wie steht es um die Wertegrundlagen unserer christlich geformten Zivilisation, wenn wir Hartherzigkeit an die Stelle von Erbarmen setzen und Abschottung an die Stelle von Gastfreundschaft, wie steht es um unsere christliche Identität, wenn wir Menschen an den Außengrenzen der Europäischen Union ertrinken lassen?« Sie plädierten in dem Schreiben auch dafür, die »Kultur der Integration« weiterzuentwickeln und sich an die »Verflochtenheit der ganzen Menschheitsfamilie« zu erinnern.

Gerade zu Politiker*innen, die sich auf christliche Werte berufen, passt es nicht, sich mehr gegenüber Flüchtenden zu versperren und das eigene Land abzuschirmen, als etwas für die Aufnahme Schutzbedürftiger zu tun und sich als Teil einer Weltgemeinschaft zu begreifen. Es ist keine Leistung, sich abzuschotten und zurückzuziehen, es ist viel schwieriger, die eigene Verantwortung zu erkennen. »2015 darf sich nicht wiederholen« ist ein feiger Satz und ein mutloser Blick auf die eigene Gesellschaft. Ein künftiger Kanzler, eine künftige Kanzlerin sollte den Bürger*innen mehr zutrauen.

Er oder sie sollte zudem nicht nur diejenigen als Bürger*innen begreifen, die im September wahlberechtigt sein werden. Wer in diesem Jahr die neue Bundesregierung bilden wird, muss Politik machen für die pluralistische Gesellschaft in Deutschland, in der Menschen aus aller Welt bereits jetzt zuhause sind. Denn was soll die Botschaft sein an diejenigen, die in Deutschland nach Flucht und Verfolgung ein neues Zuhause gefunden haben? Die hier arbeiten, studieren, zur Schule gehen, die sich verliebt haben oder die, wie jetzt gerade nach der Flutkatastrophe, ins Ahrtal gereist sind und anderen in Not geholfen haben? Steckt nicht auch in diesem Satz, dass all die Menschen, die 2015 und in allen anderen Jahren nach einer Flucht in Deutschland ankamen, am besten nie gekommen wären? Gehören sie unter dem Dach dieses Satzes heute dazu?

»Werden wir das Land, das in uns steckt« wäre ein geeigneter Satz für jede Partei, aber auch für die eigene politische Haltung, um für sich zu beantworten, was dieses Land ausmachen soll, was zum Vorschein kommen soll, wenn wir es aus der Deckung locken. Ich denke, dass wir über diese Reflexion einen weiten Sprung nach vorn machen könnten. Denn die deutsche Gesellschaft denkt in vielen Themen progressiver, als die Regierungspolitik diese Themen behandelt. Zum Beispiel bei der Sterbehilfe, für deren Legalisierung sich in einer Umfrage in diesem Jahr fast drei Viertel der Befragten aussprachen und deren Verbot das Bundesverfassungsgericht gekippt hat. Doch das von Jens Spahn (CDU) geleitete Bundesgesundheitsministerium hat eine Neuregelung verschleppt, und er macht keinen Hehl daraus, dass er das Weiterbestehen des Verbotes bevorzugt hätte.

Die Menschen in Deutschland wären bereit, mehr Steuern zu zahlen, wenn mit diesem Geld mehr gegen Kinderarmut getan würde

Auch bei Abtreibungsrechten denken Menschen in Deutschland liberaler, als Paragraf 218 sie seit 150 Jahren regelt. 2016 haben sich in einer repräsentativen Umfrage 50 Prozent der Befragten für eine legale Abbruchsregelung ohne Einschränkungen ausgesprochen, nur ein Prozent war für ein vollständiges Abtreibungsverbot. Auch das Informationsverbot zu Schwangerschaftsabbrüchen würde die Mehrheit der Deutschen abschaffen, während die Große Koalition den Paragrafen 219a so reformiert hat, dass weiter Ärzt*innen, die auf ihren Websites über die Dienstleistung informieren, verurteilt werden. Die »Ehe für alle« hat eine breite Unterstützung in der Gesellschaft, und doch werden lesbische Ehepaare beim Abstammungsrecht nach wie vor gegenüber Mann-Frau-Paaren diskriminiert. Auch in dieser Legislaturperiode ist es nicht gelungen, die gesetzliche Grundlage dafür zu schaffen, dass beide Mütter von Geburt an rechtliche Elternteile ihres Kindes sein können. Die Menschen in Deutschland wären sogar bereit, mehr Steuern zu zahlen, wenn mit diesem Geld mehr gegen Kinderarmut getan würde.

Diese Abgleiche von liberalen Haltungen in der Bevölkerung und konservativer Politik werfen die Frage auf, warum die Regierungspolitik sich in vielen Fragen auf Positionen beruft, die dem Willen der Bürger*innen nicht entsprechen. In uns steckt überwiegend nicht das Land, an das sich die beschriebenen Gesetze richten, in uns steckt nicht das Land, das steigender Kinderarmut weiter zusehen will, und auch nicht der Satz »2015 darf sich nicht wiederholen«. Zwar sind rechtsextreme und rassistische Einstellungen in Deutschland noch viel zu weit verbreitet und weiter gefährlich, doch die Leipziger Autoritarismus-Studie von 2020 hat daneben auch festgestellt, dass der Anteil von »manifest ausländerfeindlich Eingestellten« seit 2018 gesunken ist. Es gibt keinen Anlass dafür, den Hass von rechts rhetorisch zu hofieren, aber gute Gründe, weiter alles dafür zu tun, ihn so weit zurückzudrängen, bis nichts mehr von ihm übrig ist.

Es ist viel Gutes, das in uns steckt und schon da ist: Solidarität, bedingungslose Hilfsbereitschaft, Offenheit, Akzeptanz von Diversität und Selbstbestimmung. Darauf sollten wir öfter und lauter bestehen und widersprechen, wenn der Hass von wenigen zur Angst der vielen erklärt wird. Wenn Politiker*innen Ressentiments verstärken, statt sie zu bekämpfen. Wir sollten widersprechen, wenn unserer Gesellschaft abgesprochen wird, sich weiterentwickelt zu haben. Wenn wir in einer Kälte vertreten werden, die viele nicht empfinden. In uns steckt kein Land, das sich verhärten muss, sondern eines, das sich häuten kann und danach offener und großherziger ist als zuvor. Um die Werte der Menschlichkeit noch besser leben, weitergeben und verteidigen zu können, brauchen wir nun auch die passende Politik.