Wenn man, wie ich, mit zehn Jahren seinen Vater verliert, hat man nicht viele Erinnerungen an ihn. Zehn Jahre waren zu kurz, um ihn wirklich kennenzulernen. Was ich über ihn weiß, fußt auf Kindheitserinnerungen und Erzählungen. Es sind keine Geschichten mit Anfang und Ende, sondern eher Momentaufnahmen, Gefühle, Bilder. Je mehr Emotionen mit diesen Bildern verbunden sind, desto besser kann ich sie abrufen. In meinem Fotoalbum der Erinnerungen taucht dabei immer wieder dieses eine Bild auf: Er sitzt auf der Couch, beugt sich mit geballten Fäusten nach vorne, schlägt zwei Mal leicht auf den Tisch und lässt sich kurz danach euphorisch auf die Rückenlehne fallen. Für diesen Gefühlsausbruch konnte es immer nur zwei Gründe geben: Entweder hatte die Skifahrerin Janica Kostelić bei einem Rennen die Führung übernommen – oder Kroatien hatte ein Fußballspiel gewonnen.
Es gab wenig, das meinen Vater, einen Kroaten aus Bosnien, so elektrisieren konnte wie Fußball. Wenn Stipe Pletikosa es wieder einmal geschafft hatte, einen Schuss der gegnerischen Mannschaft abzuwehren, wurde mein Vater, ein großer, ernster Mann, plötzlich wieder zu einem kleinen, aufgeregten Burschen.
Was noch von einer Person überbleibt, wenn man sie als Kind verliert, sind die Sätze, die sie immer wieder gesagt hat. »Wir sind eine gute Mannschaft, wir waren 1998 sogar mal Dritter bei einer Weltmeisterschaft« war so ein Satz, den ich als Kind nachplapperte, um meine Mitschüler eines Besseren zu belehren, wenn sie mir einreden wollten, dass »Kroatien ein viel zu kleines Land ist, um eine WM zu gewinnen«. Ich hatte damals keine Ahnung von Fußball. Aber darum ging es mir auch nicht. Mir ging es um meinen Vater, der die kroatische Mannschaft immer so euphorisch und siegessicher anfeuerte. Der mit Herz und Seele dabei war, wenn sein Team wieder einen Sieg erringen konnte. Und der nie an den Fähigkeiten seines Teams zweifelte.
Meine beiden Schwestern und ich, wir alle fieberten immer eifrig mit, selbst meine Mutter, die Serbin ist. Ob Serbien oder Kroatien, das spielte in unserem Haus nie eine Rolle. Ich musste erst älter werden, um zu begreifen, dass es überhaupt einen Unterschied zwischen Serben und Kroaten gibt und dass für viele andere Familien, die während des Jugoslawienkriegs nach Österreich emigriert waren, dieser Unterschied sogar eine sehr große Rolle spielte. Aber da war ich schon soweit, meine serbisch-kroatisch-österreichische Herkunft als Vorteil zu sehen, auch weil ich bei so vielen Identitäten nie in Versuchung geriet, übertriebenen Nationalstolz zu empfinden.
So ist es auch beim Fußball, der in Kroatien leider in einem erheblichen Maß von nationalistischen Kräften instrumentalisiert wird. Es ist immer noch normal, dass bei Spielen Fahnen mit dem Symbol der faschistischen Ustascha-Bewegung auftauchen. Und auch jetzt vor dem WM-Finale waren neben rechtsextremen Parolen auch »Sieg Heil«-Rufe auf Wiens größter Balkanfanmeile zu hören. Wenn ich zurückdenke an meinen jubelnden Vater, an die Trikots und die Fahnen – bei ihm hatte das alles nichts mit Nationalismus zu tun. Es ging nicht darum, sich besser zu fühlen, weil man Kroate war. Es ging darum sich besser zu fühlen, weil »man« ein Spiel gewonnen hatte. Weil Kroatien die bessere Mannschaft war, nicht das bessere Volk. Und es ging darum, die Freude darüber mit anderen zu teilen. Jeder, der das anders sieht, hat nicht verstanden, worum es im Fußball geht.
Fußball war und ist in meiner Familie etwas Verbindendes, der Sport hat nichts mit Nationalismus oder Ausgrenzung zu tun. Auch aus diesem Grund werden meine Schwestern und ich für das Finale an diesem Sonntag nach Zagreb pilgern. Wir wollen dort mit gleichgesinnten Kroaten feiern, die so wenig Lust haben auf hohles Pathos und stumpfen Nationalstolz wie wir.
Vor allem machen wir die Reise aber für unseren Vater. Obwohl ich ihn nicht gut gekannt habe, weiß ich genau, wie sehr er sich in diesen Tagen gefreut hätte. Er hätte es verdient, am Sonntag in Zagreb zu stehen und sein Team zu feiern. Er hätte es verdient, zu jubeln, wenn Ivan Perišić seinen Fuß nach oben reißt und dem gegnerischen Torwart keine Chance zur Abwehr lässt. Er hätte es verdient, die Faust zu ballen – so wie Mario Mandžukić das nach einem Tor macht. Und er hätte es verdient, mitzuerleben, dass Danijel Subašić ein mindestens genauso guter Torhüter ist wie einst Pletikosa. Nun werden wir es für ihn tun – mit der Freude und Fußballleidenschaft, die er uns vorgelebt hat. Ganz egal, wie das Spiel ausgeht, hätte ich jetzt fast geschrieben. Aber das stimmt nicht ganz. Gewinnen wollen wir schon.