Die Kerze ist runtergebrannt, das Tischtuch vollgekrümelt, Saucenflecken, Ölpfützen, am Tischrand die Handys schon griffbereit, die Blicke längst glasig, und dann kommt der Wirt mit dieser Idee: Noch einen Grappa? Es ist diese kleine Extrazeit, die dann beginnt. Man lehnt sich noch mal zurück. Für das eine Thema, das man den ganzen Abend vermieden hat, ist jetzt noch Zeit. Oder auch fürs Leise-einander-in-die-Augen-Gucken, wofür man vorher die ganze Zeit zu hungrig war. Den Wein nach einem Stresstag wie Wasser getrunken, jetzt Ruhe und ein Getränk, das aufräumt. Den Weindusel aus dem Kopf vertreibt, den Magen ordnet und die Gedanken klärt.
Ich mag das, wenn man am Ende des Abends noch mal die Wahl hat zwischen Ramazotti, Grappa und Limoncello. Oder noch auf einen Ouzo eingeladen wird. Gelegentlich war es ein Wodka. Was einem auch passieren kann: Tequila. Kleines Glas, Zitrone darauf, den Salzstreuer noch einmal rübergeschoben, und dann das tiefe Abschiedsnicken noch am Tresen. In anderen Restaurants wird gegen Viertel nach neun das Stoßlüften begonnen, um den Geruch der ersten Runde Essensgäste zu vertreiben und die Gemütlichen unter diesen Gästen gleich mit, hier aber sagt man das Gegenteil: Ihr wolltet schon gehen, ihr habt schon bezahlt, aber bleibt doch noch kurz! Meistens erfährt man für die Dauer eines Schnapses eine ganze Menge von den Wirten, über gefälschte Impfnachweise, die Auszahlung der Corona-Hilfen, die Schwiegertochter, die nächste Renovierung. Gut, es gibt natürlich auch die Variante, wo der Grappa gleich zur Rechnung gereicht wird und man dann umso leichter aufrundet. Die wahrscheinlich unbürokratischste Corona-Hilfe Deutschlands.
Was ich aber in meinem Leben bloß an einem Ort erlebt habe, ist der Abschiedserdbeerlimes. Er kam auch in einem kleinen Schnapsglas, rot und cremig, mit der Rechnung. Meistens mit dem Hinweis, das sei, wie wir wüssten, natürlich nur Saft. Es war ein bunter, wilder, enger Laden an der Zülpicher Straße in Köln, in den meine Freundin und ich gern als Letztes noch gingen, um den Abend nachzubesprechen. Wer war da gewesen, was hatte wer gesagt, wie hatte er das gemeint? Wenn ich heute daran denke, wie viel Lebenszeit ich damit verbracht habe zu überlegen, was jemand, meistens ein Mann, gemeint haben könnte, und wie man darauf jetzt am besten/am zweitbesten/zur Not reagieren könne/müsse/sollte und wann, und was man dabei anzieht, dann wird mir schlecht. Mehr noch als beim Gedanken an all den Erdbeerlimes, den wir bei den Beratungen tranken. Wenn ich nun gelegentlich den Fernseher einschalte, fühle ich mich zurückversetzt: Da wird mit dem gleichen Vokabular über Putin geredet wie über Lukas aus der Zwölften. Was könnte er wollen? Wer ihn verstehen, was ihn besänftigen? Wie ihn ansprechen, wie auf keinen Fall ihn beschämen?
Nun maße ich mir nicht an, dass meine Unmündigkeitserfahrungen aus den Neunzigern bei der Krisenpolitik hilfreich sein könnten, aber unsere Probleme lösten sich so: Es stellte sich heraus, im Laufe der Jahre und mit viel zu viel Einfühlung, dass die Männer zwar berechenbarer wurden, ihr gelernter Machtanspruch aber immer ein Problem blieb und auf Dauer nur eines Sinn machte: seine eigenen Wünsche zu kennen. Daraus ergab sich dann das Vorgehen. Und nebenbei wirkte man wohl selbst authentischer, seinerseits berechenbarer, wenn man vertrat, was man wollte, und nicht nur auf Antizipiertes zögerlich reagierte. Na ja. Was ich als Absacker vielleicht noch dazusagen sollte: Das geht nicht immer gut aus.