Im Berufsverkehr, vor einigen Jahren in Berlin. Es regnete, schneite oder beides zusammen, die S-Bahn war ausgefallen, und an der einzigen Bushaltestelle weit und breit dräng-ten sich immer mehr genervte, schimpfende, rauchende oder aufs Handy starrende Menschen zusammen. Mittendrin zog eine Frau eine Schachtel »Edle Tropfen in Nuss« aus ihrer Einkaufstüte, nahm sich ein Stück und reichte die Schachtel an die Umstehenden weiter.
In dem Moment wurde mir nicht nur klar, was Großstadt auch sein kann: Menschen, die mit Wildfremden ihre Schnapspralinen teilen. Sondern ich verbinde Alkohol-Schokolade seither auch mit Situationen, in denen alles aus dem Ruder läuft. Gerade ist ja wieder so eine Zeit. Es ist das dritte Jahr der Pandemie, niemand weiß, wie es weitergehen soll und ob das alles irgendwann aufhört. Auf Twitter hat jemand geschrieben: Sollte es zu einem weiteren Lockdown kommen, werde er die Phase des Erlernens neuer Hobbys überspringen und direkt zum Trinken übergehen.
Viele dürften inzwischen jedoch so durch sein, dass sie nicht einmal mehr trinken wollen. Trinken hat im Idealfall ja einen gewissen Rahmen, man kocht, lädt vielleicht sogar wen ein, sucht das passende Getränk aus oder mixt eines. Aber in einer Zeit des Kontrollverlusts, in der man abwechselnd schreien und heulen will, in der die Tage ineinanderfließen und man oft nicht mal mehr weiß, ob gerade 2020, 2021 oder 2022 ist – in einer solchen Zeit will man sich einfach etwas in den Mund stecken, das süß ist und betäubt. Einen Schnuller für Erwachsene gewissermaßen.
Bei mir war der Schnuller eine Packung »Asbach Pralinen Zarte Fläschchen«. Ich biss den Schokoladenhals auf, schlürfte den Weinbrand heraus und knabberte an der Zuckerschicht, was erstaunlich gut schmeckte und mir klarmachte, warum die Dinger nicht an Kinder und Jugendliche ausgegeben werden dürfen.
Es war aber gar nicht so sehr die klebrige Schoko-Alkohol-Masse, die etwas Tröstendes hatte, sondern die Verpackung. Die beigefarbene Schachtel, das in Brauntönen gehaltene Foto einer Weinbrandflasche vor einer Landschaft. Der wuchtige Schriftzug, bei dem man an ein Wohnzimmer mit Schrankwand, Kristallvasen und Röhrenfernseher denken muss.
Mir fielen die Pralinenschachteln ein, die in meiner Jugend in solchen Wohnzimmern verstaubten, weil Schnapspralinen ein beliebtes Mitbringsel waren, und die Werbespots von »Mon Chéri«, die davon handelten, dass nur ganz bestimmte Kirschen für die Branntwein-Praline infrage kämen. Ich stellte fest, dass sich auch an der Anmutung von »Mon Chéri« nichts geändert hat und man sich mit einem Biss in die alte Bundesrepublik zurückversetzt fühlt oder zumindest in eine Zeit, in der alles einfach, klar und geregelt schien. Schnapspralinen strahlen nämlich das Gegenteil von Kontrollverlust aus. Sie passen auch nicht in Die Känguru-Chroniken, in denen der Berliner Autor Marc-Uwe Kling sein anarchistisches Känguru, das alles durcheinanderbringt, Schnapspralinen essen lässt. Schnapspralinen sind genau die Portion spießige Gediegenheit, nach der man gerade solche Sehnsucht hat. Und noch eines ist gut an Schnapspralinen: Man hat sehr schnell genug davon.