Das Wasser im Munde

Spucke kann Schmerzen lindern und spielt auch in der Liebe und beim Küssen eine große Rolle. Würdigung einer unterschätzten Flüssigkeit.

Foto: Maurizio Di Iorio

Wäre ich nicht Schriftstellerin, Kolumnistin oder sonst was mit Buchstaben geworden, hätte ich sicher Medizin studiert, denn ich bin auf erstaunliche Weise dazu in der Lage, Menschen anzusehen, was in ihren Körpern los ist. Ich sehe Lungenentzündungen, wo Ärzte noch über Bluttests nachdenken, ich erkenne eine Gastritis am grauen Schleier um die Augen, und ich weiß sofort, wann ich einen Insektenstich aussaugen muss, damit keine Ohnmacht droht, und dabei wiederum kommt meinen Patienten eine weitere meiner schamanischen Fähig­keiten zugute: Diese Spucke hat Power. Wirklich. Ich spinne hier nicht rum. Einmal von mir einen Wespenstich ausgesaugt bekommen, und Sie wollen nichts anderes mehr. Einmal einen Finger mit einer bösen Schnittwunde in meinem Mund gehabt, und Sie werfen Ihre Druckverbände aus dem Fenster. Sollten Sie wie ich dazu neigen, häufig hinzufallen, und deshalb gelegentlich an Schürfwunden leiden, sagen Sie Bescheid, ich spucke Ihnen drauf.

Spucke, wow. Was für ein Teufelszeug! Man denkt nur zwei Sekunden darüber nach, und schon läuft einem das Wasser im Mund zusammen. Ein durch und durch hausgemachter Drink. Fast so schön wie Tränen, natürlich nicht ganz so anrührend – niemand fasst sich zitternd ans Herz, weil jemand in seiner Gegenwart einen kleinen Spuckefaden zieht –, dafür aber auch nicht so salzig. Wenn Tränen das menschliche Meer sind, ist Spucke die innere Seenplatte. Und wenn man jeden Tag genug trinkt, es quasi nach innen regnen lässt, ist der Wasserstand immer so stabil, dass man genug Spucke zur Verfügung hat, um zum Beispiel eine ganze Fußballmannschaft zu küssen, aber natürlich nach dem Spiel, denn zu einem guten Kuss gehören nicht nur feuchte, weiche Lippen, sondern auch Leidenschaft, Endorphine, Hitze, ab und an eine Prise Traurigkeit und der feste Glaube, keine weitere Niederlage einstecken zu müssen.

Ich hatte mal diese Phase, mit Anfang dreißig. Da dachte ich, es müsste eine Fußballmannschaft sein. Na ja, es war kein ganzes Team, auch kein halbes, es war ziemlich genau ein Drittel einer Drittligamannschaft. Der Außenverteidiger war sehr klein, unglaublich hübsch, acht Jahre jünger als ich, er hatte olivfarbene Haut und konnte wahnsinnig gut zu beknackter Rockabilly-Musik tanzen. Einer dieser Jungs, mit denen man einfach nur Spaß hat, noch mal und noch mal und noch mal, bis wir uns beide sagten: Okay, fertig. Mund abwischen, next, please.

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Ich holte sogleich den Mittelfeldregisseur von der Bank, auch der war eher zierlich, eigentlich gar nicht meine Zielgruppe, aber er war nicht dieser langweilig-klassische Zehner, er war ein Siebener. Allein die Zahl ist schon viel aufregender, er schlug Haken auf dem Platz, seine Flanken waren zum Verrücktwerden schön, er hatte Pirlo-Pässe drauf, er hatte eine dunkle, wilde Seele. Eines Tages, nachdem wir in der Nacht zuvor noch knutschend in der Mitte einer vierspurigen Straße gestanden hatten, wechselte er den Verein und verließ die Stadt. Bei mir wechselte sich ein Innenverteidiger ein. Groß, athletisch, mit schimmernden Augen und meterlangen Wimpern, noch viel jünger als die anderen beiden, aber ein Mann, wie ich ihn bis dato nicht gekannt hatte. Voller Verantwortungsbewusstsein, Kraft und Zärtlichkeit. Er liebte es, frühmorgens in meinem Bademantel auf meinem Balkon zu stehen und rüber in Richtung Stadion zu schauen, ich liebte ihn, als wäre er mein eigener Sohn, wir waren über ein Jahr nicht zusammen.

Nach dem Verteidiger grätschte der Stürmer auf den Platz.

Mit dem Stürmer kamen die Tränen.