»Sie können auch Du zu mir sagen«

Wie viel Augenhöhe und Nähe ist gut, und was passiert, wenn man SchülerInnen nach vielen Jahren zum ersten Mal siezt? Frau W. über die richtige Ansprache.

Ricarda meldet sich: »Duhuuu, Frau W.! ich verstehe die Aufgabe nicht.« Die Klasse kichert. Mustafa stupst Ricarda in die Seite. Die Kleinen aus der Fünften sind sich noch nicht ganz sicher, wie sie mich ansprechen sollen. Ein Du rutscht da schon mal raus.

Wissenschaftler der Universität Siegen haben im Rahmen einer Studie bundesweit 600 Schulen untersucht. Sie wollten herausfinden, ob es sich auf die Leistungen von Grundschülern auswirkt, in welcher Form sie ihre Lehrkräfte ansprechen. Das Fazit der Forscher: Das Duzen oder Siezen steht in engem Zusammenhang mit dem späteren Bildungserfolg. So bringen etwa Magdeburger oder Leipziger, die ihren Lehrer oder ihre Lehrerin siezen, in der Regel die besten Leistungen. In Duz-Ländern wie Bremen und Hamburg schneiden die Grundschüler dagegen schlechter ab.

Wir in Bayern gehören zu den Siez-Ländern. Ob die SchülerInnen deswegen besser sind – na ich weiß ja nicht. Jedenfalls hatte ich am Tag, als Ricarda mir ihr Du angeboten hat, auch noch meine Elfte – zum ersten Mal in diesem Schuljahr. In der Klasse angekommen, begrüßte ich meinen neuen Kurs und meinte: »Bitte bringen Sie in Erfahrung, wann Sie sich ihre Bücher abholen können!« Große Augen, noch größere Ohren. »Haben Sie uns gerade gesiezt?« – »Klar«, erwiderte ich, »Sie gehören jetzt zu den Großen, Sie sind da, wo Sie seit Jahren hinarbeiten; das Abitur ist in Sichtweite. Damit Ihnen der Ernst der Lage bewusst ist, sieze ich ab jetzt.« Wieder Gekicher, Staunen, Irritation. Ich glaube, der Effekt, den die neue Ansprache hat, ist groß. Ich selbst begegne meinem Kurs anders, stärker auf Augenhöhe, und im Gegenzug fühlen sich, so ist mein Eindruck, auch die Schüler noch ernster genommen und arbeiten deswegen auch »erwachsener« mit.

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Lukas, den ich noch aus der achten Klasse kannte, war das trotzdem nicht geheuer: »Wir kennen uns doch schon so lang, Sie können gern beim Du bleiben!«. Ich verneinte lachend. Entweder alle oder keiner und mir ist dieses Sie eben wichtig. Wir sprachen noch über Werte und Respekt, diskutierten noch eine Weile darüber, ob das Ikea-Du ein echtes Du oder ein Marketinggag ist; irgendwann klingelte es zur nächsten Stunde. Der Referendar, der vor der Tür gewartet hatte, stürmte rein, und während er beflissen das Datum an die Tafel schrieb, flötete er ein fröhliches »Du, Ben, kannst mir mal das Lineal rüber reichen?!». Na toll. Ich sammelte verstohlen meine Unterlagen im ganzen Zimmer ein und verschwand zur nächsten Stunde.

Auf dem Weg durch die Gänge des in die Jahre gekommenen 70er-Jahre-Anbaus fragte ich mich, was mich wohl an diesem Referendar, der seine Sache sicherlich nur gut machen wollte, so störte. Ich glaube, er hegt hinter seinem flapsigen Umgangston und dem lockeren Du, die leise Hoffnung, dass die SchülerInnen ihn deswegen lieber mochten, ihm wohlgesonnener sind und ihn in der Lehrprobe nicht auflaufen lassen. Ich erkannte aber auch für mich, dass ich niemals die beste Freundin meiner SchülerInnen sein möchte. Und das Sie hilft mir dabei.

Mir fiel auch die letzte Abiturfeier im Juni ein. Wie sie alle da oben standen mit ihren Zeugnissen, so stolz, erleichtert, erwachsen und vor allem: frei. Später hatte Maja mich auf der Feier entdeckt – ich hatte sie in Deutsch zwei Jahre lang bis zum Abitur begleitet. Sie war mir um den Hals gefallen und hatte gesagt: »Ach, Frau W., es ist so schön dich zu sehen... Huch!« Pikiert hatte sie sich die Hand vor den Mund geschlagen.

»Das Du geht schon in Ordnung, fühlt sich jetzt doch richtig an«, beruhigte ich sie. Aus dem zarten, früher sehr schüchternen Mädchen war eine selbstbewusste junge Frau geworden, die bald studieren würde. Ihr Du klang wie ein großes Danke an mich.