»Ich hasse Friedhöfe. Muss ich trotzdem zum Grab meiner Mutter gehen? Oder reicht es, ihrer von zu Hause aus zu gedenken?« Julia S., Braunschweig
Ich hatte mal eine Therapeutin, die hauptsächlich mit Merksätzen operierte, von denen ich mir allerdings nur einen einzigen tatsächlich gemerkt habe, was unter anderem daran gelegen haben mag, dass sie darauf bestand, die Therapiestunden im Laufen abzuhalten, also während eines Spaziergangs, ich glaube, sie wollte einfach an die frische Luft. Das war deshalb anspruchsvoll, weil sie sehr schnell ging und ich Mühe hatte, mit ihr Schritt zu halten, vor allem, wenn mir links und rechts die Tränen herunterliefen und ich eigentlich nur darauf bedacht war, dass das nicht von normalen Spaziergängern bemerkt werden würde, weshalb ich, je nachdem, aus welcher Richtung uns gerade wieder jemand entgegenkam, entweder stur zur Seite, nach unten oder hinten sah. Meine Therapeutin muss ausnahmsweise in Hörweite gewesen sein, als sie folgenden Merksatz murmelte (wenn sie überhaupt sprach, tat sie es leise und irgendwie à part, als wäre ihr die Rolle der Therapeutin selbst unangenehm): »Ratschläge sind auch Schläge.« Sie sagte diesen Satz gleich zweimal: »Ratschläge sind auch Schläge.« Das hat sich mir irgendwie eingeprägt und macht es mir generell nicht ganz leicht, Fragen wie die Ihre zu beantworten, weil mein erster Reflex ist, dass doch bitte jeder alles so machen soll, wie er es möchte, und überhaupt, wer bin ich, etwas zu raten, ich kenne Sie doch auch gar nicht persönlich, aber gut, in Ihrem Fall mache ich eine Ausnahme: Ganz ehrlich und aufrichtig, das ist eine Gewissensentscheidung, und zwar Ihre. Wie es ja auch Ihre Mutter ist, um die es geht, und ihr Andenken. Was auch immer ich hierzu sagen würde, es wäre eine Anmaßung. Vielleicht nur dies: Wenn Sie ganz genau in sich hineinhören, wissen Sie die Antwort. Und dafür brauchen Sie nicht an einen besonderen Ort zu gehen.