Vor Kurzem lud mich ein Freund auf einen Spieleabend ein. Eigentlich hatte ich nichts vor, aber das Wetter war schön, und auf Monopoly bei 25 Grad hatte ich keine Lust. Ich entschuldigte mich mit der Begründung, noch an einer späten Videokonferenz teilnehmen zu müssen, und ging in den Biergarten. Dort funkelte der Gerstensaft so wunderbar im Maßkrug, dass ich gedankenverloren ein Foto machte und es meiner Instagram-Story hinzufügte. Als ich spät an diesem Abend durchsah, wer von meinen Followern meine digital geteilte Liebe zum Bier betrachtet hatte, wurde mir auch der versetzte Freund angezeigt. In den nächsten Tagen schien eine beleidigte Stille in unserem Chatverlauf zu herrschen. Keiner von uns beiden schrieb etwas.
Das ist nur eine von vielen Episoden aus einer schrumpfenden Welt, in der fortlaufend kleine und große Inseln einem unaufhaltsamen Flächenfraß zum Opfer fallen. Eilande der Geheimniskrämerei, die ich immer geliebt habe, obwohl sie zugegebenermaßen schmutzig sind. Die mehr oder weniger eleganten Ausreden, oft verniedlichend Notlügen genannt, trugen in meinem Fall Namen wie »Arzttermin«, »Verwandtschaft« oder »Arbeitsprojekt«. Aber mit der gleichen Geschwindigkeit, mit der wir unseren Alltag in die digitale Welt zerren, gehen die Zugänge zu diesen Inseln verloren. Wir posten, tweeten, sharen, streamen, vloggen – jedes noch so banale Erlebnis landet heute im Internet. Die Totalüberwachung durch soziale Medien ist längst Wirklichkeit, es fällt uns nur nicht so auf, weil wir sie selbst betreiben.
Nun könnte man natürlich sagen: Wer sich der digitalen Darstellungssucht so hingibt, ist selber schuld. Aber man muss nicht mal ein Smartphone besitzen, um von der drastisch gesunkenen Lebenserwartung der Notlüge betroffen zu sein. Es reicht ein gemeinsamer Bekannter, der einmal in die Runde filmt und das Ergebnis auf irgendeine Plattform hochlädt. Dann weiß der Studienfreund plötzlich, dass man die Party lieber ohne ihn steigen lässt, und der Arbeitgeber, dass man so krank nicht sein kann.
Damit ist es ausgerechnet die Welt der perfekten Inszenierung, der Filter und Fakes, die dazu führt, dass man im echten Leben ehrlicher sein muss. Der Monopoly-Freund konfrontierte mich bei unserem nächsten Treffen mit meinem Schwindel. Aus einer kleinen Streiterei wurde ein reinigendes Gewitter, in dem aufgestauter Groll aus der Welt geschafft und gegenseitige Bedürfnisse neu verhandelt wurden. Unserer Freundschaft hat das gutgetan. Seitdem versuche ich, Instagram sei Dank, aufrichtiger durchs Leben zu gehen.
Das funktioniert erstaunlich gut. Man ist deutlich entspannter, wenn man das Damoklesschwert der Entlarvung nicht fürchten muss. Aber die Wahrheit muss man sich im Umgang mit Verwandten, Freunden und Arbeitgebern auch leisten können: »Wahrhaftig sein zu dürfen, ohne Schaden befürchten zu müssen, ist ein Vorrecht der Macht, der Mächtigen […]«, schrieb der Philosoph Karl Jaspers. Dem Chef, der seinen Untergebenen mitteilt, dass er jetzt nach Hause gehe, um sichum seine Kinder zu kümmern, wird womöglich noch applaudiert. Der Angestellte in der Probezeit tut sich da schwerer. Und wer seinen Freunden ständig zu verstehen gibt: Du, da habe ich echt was Besseres vor, als dich zu treffen – der hat bald keine mehr.
Um die alte Kulturtechnik der Notlüge kommt man also auch in heutigen Zeiten nicht immer herum, es braucht nur neue Methoden, um sie zu erhalten. Es gibt schon bei manchen Abendessen das Ritual der Smartphone-Schüssel. In sie legen alle Gäste ihre ausgeschalteten Spionage-Werkzeuge. Und so erhebt sich aus dem Ozean der Transparenz doch noch ein Inselchen der Heimlichkeit.
Oder man hofft, so wie ich, auf Lücken, die die Technik lässt. Ein guter Freund feiert demnächst einen runden Geburtstag. Ich habe es noch nicht übers Herz gebracht, ihm zu beichten, dass ich das Datum verschusselt und für dieses Wochenende einen Kurzurlaub gebucht habe. Ich überlege, ob ich an dem Samstag nicht können werde, weil ausgerechnet dann meine Cousine gefirmt wird. Kommt darauf an, ob es in Südfrankreich noch genug Funklöcher gibt.