Draußen Sex haben

In der freien Natur der Natur freien Lauf lassen - aufregend, wenn man sich nur traut. Obwohl das, je nach Ort, nicht immer zu befriedigenden Ergebnissen führen muss. 

 
... auf der Wiese

Sex auf einer ländlichen Wiese ist nicht nur die rurale Eskapismusfantasie des überreizten Stadtmenschen, sondern auch ein jahrhundertealtes Thema der Kunst. Es geht um die ewige Suche nach dem Idyll, dem locus amoenus, diesem Ideal des lieblichen Ortes - schon in der Literatur des Mittelalters und des Barock ein Schauplatz der Liebe, Lust und Muße. Schattenspendender Lindenbaum, erquickende Quelle und lichter Hain, herrje, warum sollte man dort etwas anderes machen? Das Konzept überzeugt aber nicht nur als literarischer Topos und schöne Vorstellung, sondern auch in der Realität.

Die Wiese ist der Teppich der Natur: weich und bequem. Etwas höheres Gras hat den wunderbaren Effekt, dass ein heimeliges kleines Liebesnest entsteht, nur aus der Höhe erkenn- und einsehbar, ein Maximum an Privatsphäre also in dieser öffentlichen Situation. Ist das Gras kurz, geht man auf volles Risiko, denn Wiesen haben es meist an sich, dass sie sich über weite Flächen erstrecken, ohne irgendeine Rückzugsmöglichkeit zu bieten, sie liegen platt und flach und ungeschützt da, also auch die, die es auf ihnen treiben. Muss man wissen, muss man sich für entscheiden. Wenn jemand kommt, erkennt er schon von Weitem, was passiert, und man kann nicht viel mehr tun, als ungerührt weiterzumachen oder wegzurennen.

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Beim Wegrennen passieren oft die drolligsten Missgeschicke, wie zum Beispiel dieses: Als das Paar den Traktor des Bauern herankommen sah, packten sie in aller Eile und splitterfasernackt ihre Sachen und rannten in Richtung der nächsten Baumgruppe. Davor musste allerdings noch ein elektrisch geladener Zaun überwunden werden, und gerade als die Frau mit einem Bein darüber war, rutschte der Schuh, mit dem der Mann den Draht hinunterdrückte, ab, worauf sie an empfindlicher Stelle elektrisiert wurde, einen Sprung machte und rückwärts einen kleinen Abhang hinunterstürzte.

Es gibt auch erstaunlich viele Geschichten mit angreifenden Kühen, wenn man sich einmal umhört (Achtung, wenn Kälbchen mit auf der Weide sind!), jedenfalls: Es ist Vorsicht geboten, ansonsten wird der locus amoenus ganz plötzlich zum locus terribilis.

 
... auf dem Balkon

Es war ein Moment, der allein schon durchs Zuschauen ganze Wellen dieses euphorischen Mein  Gott, ich lebe!-Gefühls bewirkte, dieses Gefühl, das man, obwohl man ja ständig lebt, doch nur so selten hat und das deswegen umso überwältigender ist.

Ein Hochhaus am Strand von Tel Aviv. Wunderschöne Architektur, riesige Fensterfronten, riesige Balkone mit Blick aufs Meer. Tausende Leute noch am Strand, wie das in Tel Aviv immer ist, obwohl die Sonne schon untergegangen war und nur noch als rote Erinnerung den Himmel färbte. In diesem Licht, auf einem der obersten Balkone dieses Hochhauses - man sah die Deckenlampen in der Wohnung, teure Designerstücke aus den Siebzigern -, stand ein Paar und hatte Sex. Keinen Pornosex mit Schreien und Rütteln, sondern ruhigen, gelassenen Sex als Krönung der Schönheit dieser Welt. Sie lehnte mit dem Rücken am Geländer, ein Fuß auf einem Vorsprung, er stand ihr zugewandt. Beide bis zur Hüfte bekleidet. Man kann nur darüber spekulieren, was dieser Sex für das Paar bedeutete - ziemlich sicher irgendwas mit »reinem Glück« -, aber in dem Beobachter kulminierten Entdeckerfreude, Eifersucht, Sehnsucht, Lust, Dankbarkeit zu ebendiesem unfassbaren Jetzt-Gefühl. Die beiden gingen kein großes Risiko ein - der Balkon war zu weit oben, als dass man wirklich etwas erkennen konnte. Genau das war der Kick an der Sache, für beide Seiten. Sie wurden gesehen und doch nicht wirklich. Wir sahen sie und doch nicht wirklich. Aber sie wussten, dass wir wussten. Wir wussten, dass sie wussten. Sexier wird Sex nicht mehr.

Auch in weniger optimalem Rahmen ist Sex auf dem Balkon oder auf der Dachterrasse eine feine Sache. In der Dunkelheit kann man Menschen beobachten, die unter einem ihrer Wege gehen, ohne zu ahnen, was über ihnen passiert. Ein mächtiges Gefühl der Überlegenheit, im wörtlichen Sinn. Bei Tag haben vor-überziehende Flugzeuge einen lustigen Charme: Wenn die, die da oben ihre Gesichter ans Fenster drücken, wüssten! Wenn die erkennen könnten! Wohin sie wohl fliegen? Und wo wäre ich jetzt am liebsten? Mein Gott, ich lebe!

 
… am Strand

Wenn amerikanische Wissenschaftler sich je mit der Frage beschäftigen würden, wo Menschen am liebsten mal Outdoor-Sex hätten, dann läge der Strand definitiv auf Platz eins. Sex am Strand ist das Vanilleeis unter den Fantasien. Das Billy-Regal. Die gemeine Vorstellung beinhaltet viele Elemente, die weniger dem Exhibitionismus als vielmehr der Romantik zuzurechnen sind: Der Strand ist in diesen geistigen Airbrush-Bildern meist einsam und verlassen. Das Meer rauscht. Die Sonne geht unter. Der Sand ist weiß, weich und noch warm vom heißen Sommertag. Die Haut salzig vom Bad.

Diese Vorstellungen sind genau genommen einfach das Video von Chris Isaaks Hit Wicked Game mit Helena Christensen. Was ja tatsächlich wie der beste Sex der Welt aussieht, vom Fangenspielen über die strähnigen Haare bis zum Vollzug, an die Palme gelehnt. Es überrascht also nicht, dass sich diese Fantasie so hartnäckig hält. Kommt noch dazu, dass die Vorstellung vom Strand in unseren Touristenhirnen für immer und ewig mit Urlaub verknüpft sein wird, und Urlaub steht für Entspannung, Zeit, Ausnahmezustand, Spaß, nackte Haut - alles ideale Voraussetzungen für Sex.

Der Akt am Strand aber ist nicht nur eine romantische Idee, sondern zum Beispiel auch handfestes Werbeargument eines kleinen Naturistendörfchens im Südwesten Frankreichs: In Cap d’Agde vergnügen sich Exhibitionisten, Voyeure und Swinger in schönster Symbiose an einem kleinen Strandabschnitt und werden dabei noch braun. Es ist der Ort, in dem Bruno, der Protagonist von Michel Houellebecqs Skandalroman Elementarteilchen, gegen Ende seines Aufenthalts etwas Seltsames, sehr Seltsames feststellt: »Ich glaube, ich bin glücklich«, sagt er zu seiner Freundin.

Ob mit oder ohne Romantik - es gibt ein einziges großes Problem mit der Realität am Strand. Es ist der Sand. Beziehungsweise die Sandkörner. Sie sind überall. Sie kommen überallhin. Und sie bleiben dort. Meerwasser hilft nicht, da schweben sie auch drin rum. Empfindliche Schleimhaut plus Schleifpapier, das ist nicht gut. Ein ewiges Rätsel, wie das gehen soll. Man müsste einmal in Cap d’Agde nachfragen. Diese Menschen sind schlauer als wir. Und vielleicht glücklicher.

… im Wald

Die Bäume stehen wie diskrete Voyeure. Man kann sich nicht verstecken inmitten von Bäumen - zumindest nicht vor ihnen. Sie wirken interessiert. Vielleicht ist es ihre anthropomorphe Statur. Ein Wald, so stellt man sich vor, ist ein stiller Ort. Ist Natur, allein gelassen. In Ruhe gelassen. Doch ruhig ist es in einem Wald niemals. Der Blätterhimmel über einem tuschelt. Äste knacken.
Zirpen, Fiepsen, Flattern, Poltern, seltsame Geräusche von unsichtbaren Tieren. Unsichtbar, jedoch spürbar: Wahrscheinlich in nächster Nähe - wahrscheinlich stehen sie nur einen Meter weit weg, flach atmend und sich ihre Gedanken machend, unsichtbar in ihrer exquisiten Mimikry.

Und wie mächtig wirkt dieser erhabene Ort auf zwei Liebende oder zumindest Getriebene. Wie fein der Geruch, wie schön das Sonnenspiel durch die Blätter hindurch, wie lieblich das plätschernde Bächlein. Aber dann: Mit seiner viel zu dünnen, empfindlichen Haut will der Mensch sich auf den Waldboden legen und merkt - das passt nicht zusammen. Waldboden ist eine hundsgemeine Angelegenheit. Was kuschelig und moosig aussieht, ist gespickt mit Nadeln. Spitze Steine, stachelige Zweige, kantige Zapfen. Eine Decke, Fellprothese dieses degenerierten Häufchens wildes Tier, das der Mensch ist, hilft nur wenig.

Und schließlich hat er sich doch gebettet, der Mensch, irgendwann, und lernt die weniger diskreten Bewohner des Waldes kennen, Gekreuch und Gefleuch. Es ist wenig auszurichten gegen sie. Klein, aber mächtig, sie sind still zu erdulden. Vielleicht könnte man sie auch miteinbeziehen. So ein bisschen Ameisensäure an den richtigen Stellen? Vielleicht ist es ja toll. Man weiß es ja nicht. Die Zweige auf jeden Fall. Tolle Peitschen. Kletterpflanzen eignen sich zum Fesseln. Der Wald, merkt man in dieser Situation, verliert nichts von dem Reiz, den er schon hatte, als man Kind war: Er bietet ein unerschöpfliches Inventar zum Spielen.

… im Zelt

Ein Zelt ist eine seltsame Vorrichtung. Der Definition nach ein »temporärer Bau«; mit dem, was wir gemeinhin unter Bau oder Gebäude verstehen, hat es allerdings nur wenige Gemeinsamkeiten. Es schützt zwar vor Blicken, ein bisschen Wetter und nicht allzu kräftigen Tieren, aber es ist weder schalldicht, noch hat es stabile Wände oder ein eigenes Mikroklima.

Ein Zelt ist nichts als eine hauchdünne Membran zwischen Mensch und Draußen, nichts anderes eigentlich als ein Symbol mit der Aussage: Auch wenn es den Anforderungen nicht genügt, möchten wir die Welt gerne bitten, draußen zu bleiben, danke schön. Bei Sex im Zelt muss man also vor allem geräuschtechnisch bedenken, dass zu diesem Deal auch die umgekehrte Bedingung gehört: Damit die Welt draußen bleibt, muss das, was im Zelt
passiert, auch drinnen bleiben. Sie verstehen.

… in der Stadt

In einer Stadt halb öffentlichen Sex zu haben, steht eigentlich nur für eines: dass es dringend ist. Nötig. Im Park, im Hinterhof, beim Hauseingang, egal, Hauptsache: genau jetzt. Keine Zeit heimzugehen. Auf jeden Fall muss es sein, und zwar subito. Damit ist schon einmal eine wichtige Bedingung für richtig guten Sex erfüllt: Geilheit. Was für ein hässliches Wort für einen tollen Zustand. Der Sex an sich ist oft rudimentär: Vor lauter Aufregung zu schnell, zu kurz, zu hektisch, außerdem liegt technisch an öffentlichen Orten oft nicht allzu viel Kunstfertigkeit drin. Aber das macht nichts. Der Akt wird in dieser Variante reduziert auf Triebabfuhr, auf den Rausch der Unvernunft. Denn es kann enorm unvernünftig sein, in einer Stadt Sex zu haben: Immerhin ist die Erregung öffentlichen Ärgernisses gemäß § 183a im StGB eine Straftat, die mit bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe oder einer saftigen Geldbuße sanktioniert wird.

Irgendwo im Hinterkopf muss man das bedenken - und schlimmstenfalls in Kauf nehmen bei der schnellen Nummer. Was die Sache natürlich nur noch aufregender macht. Und was noch mehr verdeutlicht, wie unbedingt nötig Sex manchmal sein kann. Als Beobachter Zeuge so einer Naturgewalt zu werden ist meist vor allem eins - lustig. Ein Beispiel: An einem schönen Sommerabend während des Finalspiels der WM stand eine kleine Gesellschaft auf einem Balkon und schaute Fußball, als einige bemerkten, wie ein Pärchen sich in einen (ziemlich mickrigen) Busch hinter dem Haus verkroch.

Der Blowjob dauerte exakt zehn Minuten. Als die beiden fertig waren und sich den Staub von den Kleidern klopften, applaudierte die Gesellschaft. Die beiden verneigten sich so würdevoll, als hätten sie gerade Hamlet aufgeführt, und gingen winkend. Das Allerbeste an der Episode: Es waren Spanien-Fans! Sie mussten während des Finales mal eben raus! Fünf Minuten später wurde Spanien Weltmeister. Zumindest diese beiden müssen sich schon vorher so gefühlt haben.

Fotos: Jonas Unger / dpa