Neujahr, ein Kino in Hamburg, es läuft der Film Carol. Ich schaue Cate Blanchett zu, wie sie ihren Mann Harge verlässt, wie sie sich in die Verkäuferin Therese verliebt und um ihre kleine Tochter kämpft, New York, 1952. Ein Raum voller Anwälte, plötzlich spricht Carol, mutig und besonnen. Sie sieht Harge ins Gesicht und sagt, dass es um das Wohl ihres gemeinsamen Kindes gehe und dass sie ihm deshalb das Sorgerecht überlasse. Sie ist des Streitens müde. Sie will frei leben, lieben können, wen sie will, und fordert im Gegenzug, ihre Tochter jederzeit besuchen zu dürfen. Dann geht sie.
Heute hätte sie Rechte, denke ich erleichtert. Die könnte sie geltend machen, alles Mögliche fordern. Aber dann fällt mir ein, wie schwer es ist, als Gehende zu fordern. Schuld hemmt. Ich wollte Frieden, so wie Carol. Mehr zu wollen, kam mir nicht in den Sinn, denn mit dem Mann hatte ich die Familie und mit ihr die Kinder verlassen, irgendwie. Ich verzichtete auf nichts, denn ich verlangte nichts.
Jammern war unangemessen. Was sollten die Menschen sagen? Du hast dich entschieden, man kann nun mal nicht alles haben. Monatelang wusste ich nicht, wie das zusammenpassen könnte: Frei leben und lieben und eine gute Mutter sein. Es schien gelogen.
Als die Redaktion, in der ich arbeite, umzog in eine andere Stadt, sagte ich: Ich komme mit. Warum nicht zwei Leben führen in unterschiedlichen Städten und wochenweise pendeln, fragte ich meine Freundin Hanna. Denk an die Mädchen, sagte sie, was ist, wenn eine stürzt oder plötzliche Sehnsucht hat und du unerreichbar weit weg bist? Ja, ich nickte, das wäre natürlich blöd. Ich müsse die Kinder regelmäßig sehen, sagte auch meine Anwältin, ich solle Zeiten vereinbaren, einen Ort finden, wo sie Platz haben. Hauptsache die Kinder!, erkannten alle um mich herum. Ich nicht. Ich hatte mir als Mutter gekündigt. Vogelfrei war ich, scheinbar rechtelos. Jaja, wiederholte ich, die Kinder, die sind jetzt das Wichtigste. Fühlte sich aber nicht so an.
Lieber keine als eine halbe Mutter, das dachte ich ganz leise. Dass ich eine Vorstellung davon habe, was eine gute Mutter ausmacht, weiß ich erst, seitdem ich ihr nicht mehr entspreche. Fast wäre ich über meine Ansprüche gestolpert und hätte freiwillig auf die Nähe zu meinen Kindern verzichtet – 60 Jahre nachdem Frauen wie Carol dazu gezwungen worden waren. Das Vermissen aber war stärker. Es überkam mich, umfassend, allgegenwärtig: Es zwang mich, meine Mädchen zu sehen, so oft wie möglich, sie festzuhalten, auszufragen, sie zu schimpfen und zu küssen. Es half mir, das zu sein, was ich für sie bin und bleibe: Mutter eben.
Illustration: Grace Helmer