Die Ausbeute von Glastonbury 2023? Eher bescheiden. Sienna Miller immerhin wurde in Double Denim, also Jeans oben und unten, mit kurzen Shorts und weißen Cowboy-Stiefeln gesichtet, Anya Taylor-Joy trug Wollmütze und Fake-Festival-Bänder (lustig), die Schauspielerin Lily James kam in einer Art Kate-Moss-trifft-Alexa-Chung-Gedächtnis-Look aus kurzem Glitzerkleid mit Barbourjacke und diesen Gummistiefeln, die eigentlich keine Stiefel mehr sind, sondern allenfalls noch Gummistiefeletten. Die Tochter von Kate Moss, Lila Grace, wiederum trug Minirock, Windjacke und Bikerstiefel.
Ach so, wer jetzt eigentlich wissen wollte, was beim »Glasto« in Südengland vergangene Woche musikalisch los war: Britney Spears trat allen hanebüchenen Gerüchten zum Trotz nicht mit Elton John (oder überhaupt jemandem) auf, es gab auch kein Hologramm von George Michael, und hinter der mysteriösen Band namens Churnups steckten wenig überraschend die Foo Fighters, was natürlich trotzdem toll war, wie überhaupt das größte und erlesenste Line-up der Festivalsaison schwer enttäuschen kann.
Aber mindestens genauso wichtig wie die Musik sind für Daheimgebliebene hinterher die Festival-Looks, also der Street- beziehungsweise Trampelpfadstyle des Publikums. Was trugen die Stars? Was sind die neuen Trends, die man vielleicht sogar selbst beim Elektrofestival Fusion in Mecklenburg diese Woche oder bei Lollapalooza im August nachmachen könnte?
Einfach irgendwas anziehen geht nämlich schon seit Jahren nicht mehr. Wer einmal beim Coachella in der kalifornischen Wüste oder beim Primavera in Barcelona war, weiß, dass bei Festivals der Ausnahmezustand regiert, nicht nur was das seelische Befinden, sondern vor allem, was den modischen Auftritt angeht. Abseits der Musikbühne hat sich längst eine zweite Bühne etabliert, eine Art Konzert-Karnevals-Parade, die man natürlich nicht mitmachen muss, die aber durchaus unterhaltsam und faszinierend anzusehen ist.
Hier werden Haare geflochten oder zu Space-Buns hochgedreht, Bauchnabel freigelegt, Pobacken nur notdürftig mit Strumpfhosen bedeckt und Stile furchtlos miteinander kombiniert. So auf die Straße gehen würden die meisten nie, aber ein Festival-Gelände ist ja auch keine Straße, sondern eine Art Freiluftgehege, in dem die menschliche Psyche mal so richtig loslassen können soll.
Das »ganz persönliche Festivaloutfit« wurde von jemand anderem zusammengestellt
Alles total legitim natürlich – wenn nicht selbst hier mittlerweile alles bis auf die letzte Grasnarbe durchkommerzialisiert und durchgenormt wäre. Während Kate Moss 2005 in ultrakurzen Shorts, Weste (ohne was drunter) und Gummistiefeln von Hunter oder im gerade mal Po-langen Lurexleibchen mit schlabberndem Gürtel durch den Schlamm watete und damit so nonchalant wie kalkuliert einen neuen »Glasto«-Look setzte, gibt es den »Festivalstyle« heute quasi frei Haus von H&M, Shein, Asos und so weiter. Sich selbst etwas überlegen oder gar zurechtschneidern wie zu den Anfängen 1969 in Woodstock? Viel zu aufwendig und ja auch unnötig, wenn es die kurzen Kettenhemdchen für wenige Euro bei Zara gibt. Instagram wird überschwemmt von Influencern in ihrem »ganz persönlichen Festivaloutfit«, das nicht nur von jemand anderem bezahlt, sondern im Zweifelsfall auch zusammengestellt wurde.
Die Modehändler haben die Festivalsaison längst als zusätzliche Jahreszeit ausgerufen, in der man noch das ein oder andere Kostüm unter die Leute bringen kann. Einer der größten Trends dieses Jahr: Gitterkleidchen aus Macramé, die an Obst- und Gemüsenetze erinnern und ähnlich viel verhüllen, mit denen man dafür um so leichter irgendwo hängenbleibt. Dummerweise tragen jetzt immer ein paar Dutzend Fans das gleiche Teil, aber hey, irgendwann wird’s ja dunkel und die 50.000 Leute um einen herum sieht man garantiert nie wieder.
Dabei ging es bei Festivals ursprünglich vor allem um Individualität, sogar mal um politische Statements. Woodstock fiel in die Zeit der Bürgerrechtsbewegung, der Frauenbewegung und des Vietnamkriegs. Jeans waren der Stoff für Rebellion und wurden individuell verziert. Brustwarzen blitzten nicht zuletzt deshalb häufiger hervor, weil sie ein Statement zur Befreiung der Frau abgaben (klar, heute sicher auch noch). Selbst in den Achtzigern funktionierten abgerockte Punk-Outfits und DocMartens als Stinkefinger in Richtung Establishment (und waren natürlich eine gute Ausrede, sich trotz Feiern und Zelten selbst an Festival-Tag drei nicht umzuziehen).
Die besten »Festivalstyle«-Fotos liefert neuerdings übrigens Martin Parr. Der britische Fotograf besuchte dieses Jahr zum zweiten Mal Glastonbury, fotografierte aber weder Stars noch Influencer, sondern die »Common Crowd«, die ziemlich normalen Festival-Besucher. Tanzende Typen mit freiem, tätowiertem Oberkörper, Wiesen voller erschöpfter Körper, Männer in Batik-Stramplern, (vorbildliche) Jugendliche beim Zähneputzen neben dem Zelt. Keine Gittermode weit und breit, aber trotzdem sahen alle sehr glücklich aus.
Häufigster Festival-Satz: »Mist, ich muss schon wieder aufs Klo.«
Zweithäufigster Festival-Satz: »Bringst du mir ein Bier mit?«
Passender Song: »See me, Feel me« (The Who)