Das Jahr der modischen Plot-Twists

Eine kurze Affäre wird zur bleibenden Stilikone, eine Präsidentengattin posiert vor Einschusslöchern und ein Model verwandelt sich in einen Wurm: 2022 war ein Modejahr voller Höhen und Tiefen. Ein Rückblick.

Fotos: dpa / AP / Instagram (eigene Zusammenstellung)

Karriere des Jahres: Julia Fox

Foto: Reuters

Bei »Fox News« denken Modefans seit diesem Jahr nicht mehr an den Trump-treuen Nachrichtensender, sondern vielmehr an Neuigkeiten über Julia Fox. Die New Yorkerin hat die erstaunlichste Aufmerksamkeitskarriere des Jahres hingelegt, im Steigbügel von, ausgerechnet, Kanye West. Sechs Wochen verbrachte sie Anfang des Jahres an seiner Seite. Dachte man damals noch, der Rapper habe nach der Scheidung von Kim Kardashian nur irgendeine neue Mode-Puppe gesucht, ist zehn Monate später klar, wer hier wen benutzt hat: Fox machte aus der Liaison eine perfekt orchestrierte PR-Inszenierung. Seitdem ist sie nicht mehr nur Ex-Domina und diese Gelegenheits-Schauspielerin aus Uncut-Gems, sondern einfach Julia Fox, Anchor-Woman in eigener Sache. Eigenen Stil hat sie auch noch: In unzähligen Fotostrecken und Laufstegauftritten zelebriert sie balkengroßes Make-up, hauchdünne Augenbrauen (schönen Dank auch), viel Leder, wenig Stoff. Auf TikTok zerschneidet sie Handtücher, um Kleider daraus zu machen (so kriegt man also »Cut-Outs« hin). Seit ein paar Monaten hat sie einen Podcast (»Forbidden Fruits«) und schreibt an einem Buch, das nicht weniger als ein »Meisterwerk« werden soll (O-Ton die Meisterin selbst).

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Trend des Jahres: Bauchcore und Barbiecore

Das Model Cindy Bruna im gefragten Miu Miu-Outfit.

Foto: Getty Images

Gern möchten wir an dieser Stelle die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Miu Miu würdigen. Die hatten ein wirklich anstrengendes Jahr, denn dieses Ensemble aus Mikro-Faltenrock, der gerade so den Hintern bedeckt, passendem Bandeau-Top, das gerade so den Busen bedeckt, Söckchen und Pfennigabsätzen war der meistgefragte und -fotografierte Look des Frühjahrs und musste wahrscheinlich hundertmal rund um den Globus verschickt werden. Zum Glück wogen die paar Quadratzentimeter Stoff nicht viel.

Nicole Kidman war darin auf dem Cover von Vanity Fair zu sehen, sämtliche Influencer trugen es rauf und runter (Top: rauf, Rock: runter), bei Zara hingen alsbald kleine Klone. Der Super-GAB (größter anzunehmender Bauchfreianteil) entfachte eine Debatte darüber, wie so viel sexy Freizügigkeit eigentlich zum vollmundigen Feminismus passt. Eindeutig geklärt werden konnte die Sache freilich nicht und dann war die Saison schon wieder zu Ende und der nächste Megatrend stand vor der Tür: Pink. Valentino zeigte für diesen Herbst eine komplett monochrome Kollektion, danach spielten die Stylisten Promi-Bingo. Florence Pugh, Megan Fox, Zendaya, Anne Hathaway, Hailey Bieber – alle wurden pink.

Wie wiederum das zum Feminismus passt, der sich ja auch darum bemüht, dass Zahnbürsten, Akkuschrauber, Autositze für die weibliche Zielgruppe nicht automatisch diesen Farbton tragen? Das werden wir erst 2023 erfahren, wenn »Barbie« von der schlauen Greta Gerwig mit Margot Robbie und Ryan Gosling endlich in die Kinos kommt.

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Reinfall des Jahres: Balenciaga

Es lief aber auch zu gut. Regelmäßige Rekordumsätze, Laufstegschauen, die gefeiert wurden, weil sie mehr vermittelten als nur Produktpräsentation, virale Auftritte von Markenbotschafterin Kim Kardashian. Da kann man schon mal den Überblick verlieren. Oder glauben, man kommt mit allem durch. Jedenfalls wurden die Teddybär-Taschen mit Sado-Maso-Montur in der Weihnachtskampagne von Balenciaga ausgerechnet an Kindern inszeniert. In einer anderen Kampagne fanden sich Gerichtsdokumente über ein Urteil zu Kinderpornografie, die wohl Requisite sein sollten, sich aber als echt herausstellten. Zufall? In Amerika und Großbritannien wurden Balenciaga-Läden beschmiert, auf Social Media großspurig Kleidung der Marke vernichtet, Kim Kardashian dachte laut (also per Instagram) über ihre Beziehung zu dieser Marke nach. Bei der Krisensitzung in Paris wäre man gern dabei gewesen.

Der Kering-Konzern entschuldigte sich öffentlich, übernahm die Verantwortung – und wollte dann erst mal die Schuld auf die Produktionsfirma schieben und diese verklagen. Zumindest Lehrbeauftragte des Fachs Public Relations dürften sich freuen. Endlich mal wieder eine ergiebige Fallstudie für den Unterricht.

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Unerwartete Stil-Ikonen des Jahres: die Selenskyjs

»Der Mode entkommt man nicht.« Unter den sehr vielen Lagerfeld-Zitaten ist dieser Satz sicher nicht der lustigste, aber der vielleicht weiseste. Denn es stimmt: Ob man will oder nicht, Kleidung sendet Signale aus und die werden empfangen, gedeutet und gern auch mal weitergefunkt, wie man zu Beginn des Ukraine-Krieges eindrucksvoll beobachten konnte: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj saß übernächtigt mit olivgrünem T-Shirt im »War Room«, zeigte sich mit Pullovern in Flecktarn in Videobotschaften. Daraufhin ließ sich der sonst so gestriegelte Emmanuel Macron von seiner persönlichen Fotografin unrasiert und im Hoodie mit dem Aufdruck »CPA 10« ablichten, der Abkürzung für »Commando Parachutiste de l’Air no 10«, einer Spezialeinheit der französischen Luftwaffe. Das Foto brauchte keine Bildunterschrift, den Subtext lieferte die Kleidung ganz allein: Politik im Ausnahmezustand.

Selenskyj wurde so zur Stilikone wider Willen. Anders verhielt es sich dagegen, als die Vogue mit Hoffotografin Annie Leibovitz einige Monate später bei ihm und seiner Frau Olena Selenska anklopfte. Im Juli ließen sich die beiden bewusst inszenieren, auf dem Cover hockte die Präsidentengattin vor Sandsäcken. Dafür hagelte es natürlich Kritik. Krieg als modische Kulisse, die First Lady mit teuren Loafern und Luxus-Mantel, etwas geschmacklos das alles, während die Soldaten an der Front kämpfen. Oder? Denn zur traurigen Realität gehört eben auch, dass der Anfangsschock über diesen Krieg immer weiter verblasst und der Rest der Welt zum Alltag übergeht. Da greifen die Selenskyjs nicht zu allen, aber zu probaten Mitteln der Aufmerksamkeits-Ökonomie. Für die Vogue war es in jedem Fall der Scoup des Jahres.

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Ulknudel des Jahres: Heidi Klum

Foto: AP

Das deutsche Model lieferte an Halloween das optische Pendant zum Ohrwurm: Vor ihrem Kostüm gab es kein Entkommen, der schaurig-glibbrige Aufzug ging sofort viral, das Reel zum Making-of setzte sich in jedem Social-Media-Feed fest. Dass der dicke Wurm auch noch an der Angel von Ehemann Tom Kaulitz hing: tatsächlich lustig.

Die 49-jährige Heidi Klum ist für ihre alljährliche Party und ihre gewagten Kostüme bekannt, monatelang arbeitet sie mit dem Maskenbildner Mike Marino daran. Selbstironie und Mut zur Hässlichkeit gehören sonst eigentlich nicht zu ihren Stärken, aber kürzlich legte sie hier sogar noch nach: Als ihr allzu fremdartiges Kleid zur Premiere des neuen Avatar-Films im Netz verspottet wurde und die Künstlerin Angelica Hicks den Look (ziemlich gut) mit Klarsichtfolie nachstellte, war Klum keineswegs eingeschnappt, sondern teilte das Video auf Instagram.

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Best-dressed-Serie: »The White Lotus«

Wer gerade die dritte Staffel von »Emily in Paris« schaut: Klar, das ist auch alles, ähm, hübsch anzusehen, die Französinnen kleiden sich sehr französisch, die Amerikanerin trägt neuerdings Pony, die Sängerin eine bekritzelte Designertasche, die aussieht wie die Schulbank früher. Aber das beste »Eyecandy« lieferte dieses Jahr »The White Lotus«, und das nicht nur wegen Sizilien als Kulisse (das Tourismusbüro kann wahrscheinlich schon mal drei neue Stellen ausschreiben wegen sprunghaft steigender Besucherzahlen.)

Die Garderobe der einzelnen Charaktere wirkt hier weniger überzogen, sondern tatsächlich authentisch (weil die Charaktere wiederum ja alles andere als gewöhnlich sind). Die Generation Z in Gestalt der persönlichen Assistentin Portia trägt bunte Pullis, sehr hochsitzende Jeansshorts, viel Lidschatten, ihr Stil ist so »lost« und liebenswürdig wie sie selbst. Mit Harper, der verkrampften New Yorker Anwältin, will am Anfang keiner tauschen, aber die Klamotten will man sofort haben: Bottega-Veneta-Taschen, das Vintage-Versace-Top, dieses weiße Cocktailkleid mit Goldknöpfen und seitlichen Cut-Outs. Die Männer kommen – oberflächlich – normaler daher, bis auf den bunte Casablanca-Hemden tragenden Cameron. Unschlagbar die beiden italienischen Escort-Azubinen in ihren sexy Glitzerfummeln. In einer der ersten Folgen kreischt die eine begeistert zur anderen: »Du siehst aus wie eine Hure! Juhu!« Einziger Schönheitsfehler: Ein sehr penetrantes Product Placement von Liu Jo. Der Laden der italienischen Marke in Taormina kann ebenfalls schon mal neue Leute anheuern.

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Vintage Love forever: Jennifer Lopez & Ben Affleck

Alte Liebe rostet halt nicht: Jennifer Lopez und Ben Affleck 2022.

Foto: dpa

Hollywood liebt Fortsetzungen: Top Gun II, Halloween XVIV, Avatar II. Das beste Skript lieferte diesmal – herzzerreißend, mitreißend, krasser Plot-Twist: Bennifer II. Verliebt, verlobt, getrennt, nach zwanzig Jahren (und diversen anderen Partnern) doch noch verheiratet. Mehr noch als das Paar selbst konnte wahrscheinlich die Boulevardpresse ihr Glück kaum fassen. Fotos aus dem Fitnesscenter, auf der Yacht, vom völlig fertigen, tagsüber wegdösenden Bräutigam in den Flitterwochen in Paris. Wem da nicht vor Rührung die Tränen kamen, hatte zu viel Botox gespritzt.

Typischer Instagram-Kommentar: »Klassisches Y2K Revival«
Passender Film: »Gigli«
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