In Zeiten der Krise und der Verunsicherung suchen die Menschen nach Halt und Zerstreuung und finden diese in bilderbuchtauglichen Backexperimenten, Wohnzimmerkonzerten ihrer LieblingsmusikerInnen, dem Durchstöbern alter Urlaubsfotos – und in der Serie »Tiger King«.
Die Netflix-Doku (deutscher Titel: »Großkatzen und ihre Raubtiere«) über das bizarre Leben und Treiben verschiedener gerissener RaubtierzüchterInnen und privater ZoobetreiberInnen in den USA belegt seit ihrer Veröffentlichung am 20. März Spitzenplätze im Beliebtheitsranking des Streaming-Dienstes. Menschen unterschiedlichster Interessen scheinen die sieben Folgen der Show bereits gebingewatched zu haben. Und während des sehnsüchtigen Wartens auf die angekündigte zweite Staffel fluten sie die sozialen Medien mit Bildern und Memes rund um ihren Protagonisten Joe Exotic und dessen Widersacherin Carole Baskin.
Doch wie konnte ein höchst fragwürdiger Raubkatzen-Fanatiker mit einer ausgeprägten Affinität zu Glitzerhemden, Waffen und Drogenmissbrauch, der in der Betreibung seines Exotic Animal Parks in Oklahoma verschiedener menschen- und tierfeindlicher Praktiken überführt wurde und im vergangenen Jahr zu 22 Jahren Haft verurteilt wurde – wie konnte er nicht nur zum Tiger King, sondern auch zum inoffiziellen Corona King werden?
Sicherlich sind die Zuschauerwerte der Serie in Teilen der schlichten Tatsache geschuldet, dass Netflix der naheliegende Zufluchtsort des Zuhausebleibens ist. Außerdem gibt es bei »Tiger King« haufenweise (Raub-)Katzenbabies zu betrachten – und die versetzen das Internet bekanntermaßen nicht nur in Entzückung, sondern lassen es auch einiges verzeihen.
Tief geöffnete Karohemden, Animal Prints, fransige Lederjacken, blondierter Vokuhila: Mit dieser Mischung könnte er direkt vom Balenciaga-Laufsteg kommen
Hinzu kommt Exotics prägnante äußere Erscheinung, deren modische Referenzen irgendwo zwischen Cotton-Eyed Joe und Donatella Versace angesiedelt sind. Tief geöffnete Karohemden mit abgeschnittenen Ärmeln, Animal Prints, fransige Lederjacken, Cowboyhüte, Lederhalsbänder, haufenweise Tattoos, sein blondierter Vokuhila und Fu-Manchu-Bart: Mit dieser Mischung könnte er direkt vom Balenciaga-Laufsteg kommen und mutierte schnell zur unverhofften Stilikone des Jahres. Immer wieder wurden in den letzten Saisons modische Symbole des White Trash wie Merchandise-Truckercaps oder Stonewash-Jeans (zwei weitere Lieblingsteile des Zoobetreibers) zu It-Pieces für those in the know erhoben. In Joe Exotic scheint diese Modebewegung nun ihre Super-Inkarnation gefunden zu haben – und das ganz ohne ironischen Unterton.
Exotic, der mit bürgerlichem Namen Joseph Allen Maldonado-Passage, geboren Schreibvogel, heißt, ist gewissermaßen ein Klischee-Redneck, der sich gleichzeitig vielen der damit assoziierten Stereotypen wiedersetzt. Er kleidet sich schillernd, schminkt sich die Augen und lebt seine Homosexualität offen aus, teilweise mit mehreren Ehemännern gleichzeitig. Zweifelsohne, dieser Mann fasziniert und er hat Charisma. Aber er ist auch skrupellos und hochgradig unmoralisch, kapitalisiert Raubtiere für einen Streichelzoo, wirft diesen (und seinen MitarbeiterInnenn) abgelaufene Fleischprodukte von Walmart oder selbst erschossene Pferde zum Essen vor, bekriegt seine Feinde aufs Perfideste und hat bei einem Raubtier-Unfall, bei dem eine seiner Mitarbeiterinnen ihren Arm verliert, vor allem die für ihn finanziellen Folgen im Kopf.
Die menschlichen Abgründe und Charaktere, die in »Tiger King« auftauchen, sind so irrsinnig, dass man sie nicht besser hätte scripten können – damit dienen sie offenbar vielen als perfekte mentale Flucht. Wenn das eigene Leben gerade in großem Maße absurd erscheint, dann hilft vielleicht nur noch Absurderes, um sich ein wenig normal zu fühlen.
Dem Tiger King selbst kann das nur recht sein. Ihm ging es nie um den Schutz der Tiere, sondern darum, sich selbst als eine Art Tigerflüsterer ein Denkmal zu errichten. Er hat es als Country-Sänger, mit seiner eigenen Reality-Show und als US-Präsidentschaftskandidat versucht. Joe Exotic möchte, dass man sich an ihn erinnert. Das hat er geschafft.
Nicht verwechseln mit: Hulk Hogan
Wird getragen von: Siegfried und Roy, Rednex, Balenciaga-Models
Wird getragen mit: Wasserstoffperoxid, Brusthaar, Waffenschein